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Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)

Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
Autoren: Nicole C. Vosseler
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    Das musste er sein, der Duft der Freiheit.
    Salzig wie die Meeresluft, die sie sogar auf der Zunge schmecken konnte. Wie der Wind roch, klar und rein, wie Quellwasser oder wie frisch gewaschene und gestärkte Leintücher. Ein Duft nach Sonnenwärme und Seetang – wie der Geruch der Decksplanken aus honigbraunem Holz, nach dem frühmorgendlichen Schrubben stellenweise noch nass, die unter dem Dröhnen der Maschinen vibrierten, im Wechselspiel von vorwärtsstrebender Dampfkraft und Wellenschlag schwankten und schaukelten.
    Kein zahmer, lieblicher Duft war es, sondern einer auf dem schmalen Grat zwischen Wohltat und beißender Schärfe. Rauchig, fast brandig wie Ruß und Qualm, die aus dem Schornstein des Dampfers quollen. Wie der Geruch des langgestreckten, schlanken Schiffsleibs aus Eisen, der in der feuchten Luft an Jodtinktur erinnerte, ebenso stechend und säuerlich, ebenso kühl. So wie auch Freiheit stets Hand in Hand mit dem Unbekannten einhergeht und ein Wagnis beinhaltet. Einen Sprung ins Ungewisse.
    Jacobina schloss die Augen und sog diesen Duft tief ein, der ihr in seiner Kraft, in seiner Stärke hier auf hoher See neu war und doch nicht gänzlich fremd; sie hatte ihn sogleich wiedererkannt. Es war der Geruch, der jedes Jahr die hellen, unbeschwerten Tage der Sommerfrische im Seebad von Zandvoort erfüllt hatte. Derselbe, der manchmal beizend vom Hafen herübergedrungen war und sich zwischen den hohen Hausfassaden gesammelt hatte. Der an seltenen Tagen, wenn der Wind günstig stand, als kaum wahrnehmbarer Hauch über Amsterdam lag und das Meer erahnen ließ, verheißungsvoll und zugleich eine Mahnung, wie nahe es doch war. Aber erst seit sie mit ihren Koffern an Bord gegangen war und jede verstrichene Stunde, jede zurückgelegte Seemeile sie weiter von ihrem alten Leben forttrug, ihrem neuen entgegen, wusste Jacobina diesen Duft zu benennen.
    Sei nicht albern , Bina , vermeinte sie Henriks Stimme zu hören. Wie sollte man Freiheit denn riechen können? Sie sah ihren älteren Bruder vor sich, in Anzug und Weste, die Krawatte korrekt um den steifen Hemdkragen gebunden und die Brauen unter den vorzeitig beginnenden Geheimratsecken emporgezogen, wie er sie mit einem nachsichtigen Lächeln bedachte. Kein Spott lag darin, denn dafür hätte es einer Leichtigkeit bedurft, die den van der Beeks nicht zu eigen war. Schweres Blut war es, das durch deren Adern floss und kaum je in Wallung geriet, geschweige denn in Leidenschaft entbrannte. Nüchtern war dieses Blut, wohltemperiert und satt von althergebrachten Werten. Wer es in sich trug, hatte sich von jeher anstandslos in die vom Vater für den Sohn, von der Mutter für die Tochter vorgezeichneten Bahnen gefügt und nie Anlass zur Enttäuschung gegeben. Anders als Jacobina. Obwohl sie nie trotzig oder ungehorsam gewesen war und sich unablässig bemüht hatte, alles richtig zu machen. Bis über die Zeit die bittere Erkenntnis in ihr aufgekeimt war, dass es Dinge gab, bei denen jegliche Mühe vergeblich blieb und die einem dennoch nicht verziehen wurden.
    Ich bin frei. Jacobina reckte sich der bleichen Morgensonne entgegen, die ihr mit noch schwachen Fingern über die Wangen strich, hielt das Gesicht in den Wind, dessen Atem ihr eins zu sein schien mit ihrem eigenen. Ein Flattern stieg in ihrer Magengegend auf, halb aufgeregte Vorfreude, halb Angst vor ihrer eigenen Kühnheit, und trieb ihr Herz zu schnellerem Schlag an, voller Stolz, diesen ungeheuren Mut aufgebracht zu haben, und mit einer Ahnung von Glück. Sie konnte es sich nicht oft genug vorsagen. Ich bin frei.
    Unbehagen sickerte nach und nach in diese Freude hinein, zäh und schwer wie in Wasser geträufeltes Öl und ebenso unauflöslich. Begleitet von einem Kribbeln zwischen den Schulterblättern, das den Nacken hinaufwanderte und die Haut dort sich kräuseln ließ. Jacobina musste sich nicht umdrehen, um sich zu vergewissern. Sie hatte jahrelange Erfahrung darin, wie sich neugierige, abschätzende, gar mitleidige Blicke im Rücken anfühlten. Sie wusste, sie wurde beobachtet.
    Bis gerade eben hatte Floortje der anderen jungen Frau noch dabei zusehen können, wie sich ihre Haltung zunehmend entspannte. Als schälte sie sich zögerlich aus dem Mantel von Unnahbarkeit und Selbstgenügsamkeit, mit dem sie bislang alle Mitreisenden auf Abstand gehalten hatte. Gerade so weit, dass sie nicht unhöflich oder unfreundlich wirkte, aber auch nicht zu einer näheren Bekanntschaft einlud. Wie sie hier, auf dem noch
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