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Tigermilch

Tigermilch

Titel: Tigermilch
Autoren: Stefanie de Velasco
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Inhalt
    Ich hätte ihn gar nicht erst entdeckt, wenn Mama nicht Frau Stanitzek auf der Straße getroffen hätte. Dass es die Stanitzek war, daran erinnere ich mich, weil ihr schon damals der Späti gehörte an der Vorderseite des Hauses, in dem Jameelah heute wohnt. Ich weiß noch, ewig standen die beiden herum, sie redeten und lachten, dann redeten sie wieder und dann wieder dieses Lachen. Ich hörte nicht hin, ich langweilte mich, und ich hielt mich am Kinderwagen fest, weil es so glatt war auf der Straße, das weiß ich noch ganz genau.
    Im Kinderwagen lag Jessi, sie war noch ein Baby, ein Unfall. Mama hat geweint, als sie erfuhr, dass sie wieder schwanger war. Sie saß auf der Bettkante im Schlafzimmer, die Bettkante von dem Bett, in dem sie früher schon mit Papa geschlafen hatte. Rainer saß neben ihr, dann hat er sie in den Arm genommen, und dann haben sie sich irgendwie doch gefreut. Ich weiß noch, dass ich das damals alles durch den Türschlitz beobachtet habe und dass ich plötzlich dringend pinkeln musste. Auf dem Waschbecken im Klo lag noch der Schwangerschaftstest, einer von den billigen aus Papier, die äußeren Enden bogen sich langsam nach oben, wie alter Schnittkäse beim Bäcker in der Auslage.
    Und dann sah ich ihn. Er lag im Schnee, er war grün, und er dampfte. Irgendjemand musste ihn erst vor Kurzem dort hingespuckt haben. Eigentlich sah er aus wie ein kleiner zusammengekneteter Pizzateig, wie für meine Barbie, nur eben grün, und er hatte Zahnabdrücke. Ich hielt mich immer noch am Kinderwagen fest, ich trug Fäustlinge, die mit einer Schnur verbunden waren, und die über meinen Rücken durch meinen Anorak lief. In einem der Fäustlinge steckte die Barbie. Und während Mama sich mit der Stanitzek unterhielt, da kroch der Oberkörper meiner Barbie aus dem Fäustling hervor und bückte sich. Die Barbie spießte den Kaugummi mit einer ihrer vorgestreckten Hände auf und steckte ihn mir in den Mund. Er war noch ein kleines bisschen süß, er schmeckte nach Waldmeister und ein bisschen nach Zigaretten. Als ich mit elf das erste Mal an einer Zigarette gezogen habe, da habe ich auch schon mal an den Kaugummi denken müssen, und heute, da habe ich wieder an den Kaugummi gedacht, wie er da im Schnee lag, und an den Geschmack, weil ich heute das erste Mal ein Kondom mit dem Mund draufgemacht habe. Alter Nuttentrick, sagt Jameelah, die Jungs finden das super. Ich erzähle das nur, weil ich glaube, dass ich zum ersten Mal eine richtige Kindheitserinnerung hatte, und Erinnerungen aus der Kindheit kann man doch nur haben, wenn man selbst kein Kind mehr ist. Jameelah sagt, sie kann sich an nichts aus ihrer Kindheit erinnern. Dann bist du vielleicht immer noch ein Kind, habe ich zu ihr gesagt. Ihr ist dann aber doch noch was eingefallen, wie sie mal in einer Mülltonne zwei Kaninchen gefunden hat, die noch nicht richtig tot waren, aber fast, das war mal in irgendeinem Sommer im Irak, da war ich noch klein, mein Cousin hat die dann totgeschlagen mit einem Tischtennisschläger, sonst hab ich keine Erinnerung, sagt Jameelah, ist vielleicht auch besser so, ich will auch gar nicht erwachsen werden, zumindest nicht ganz, nur gerade genug, dass ich in alle Clubs reinkomme und die Typen nicht denken, sie gehen in den Knast, wenn sie mit mir was anfangen.
     
     
    Wir zwei, Jameelah und ich, wir sind jetzt erwachsen. Deswegen kaufen wir uns Ringelstrümpfe von unserem Taschengeld. Wenn man anfängt, sich selbst Klamotten zu kaufen, dann ist man erwachsen. Nach der Schule schließen wir uns im Mädchenklo ein und ziehen unsere Hosen aus, darunter sind die Strümpfe. Unsere T-Shirts, die reichen uns nur knapp über den Hintern, darunter die Ringelstrümpfe, bis zum Oberschenkel hochgezogen, das ist genau das, worauf die Typen abfahren. Ich kriege immer Schulmilch in der großen Pause, weil ich Kalziummangel habe, das sieht man angeblich an den weißen Flecken auf meinen Fingernägeln. Beim Penny haben wir eine Flasche Mariacron, Maracujasaft und eine Müllermilch Schoko gekauft, den Kassiererinnen ist das meistens egal, dass wir noch keine 18 sind. Die Müllermilch kippen wir ins Klo, Müllermilch ist für Kinder, wir trinken Tigermilch, und das geht so. Wir kippen ein bisschen Schulmilch, viel Maracujasaft und ordentlich Mariacron in den Müllermilchbecher. Jameelah rührt mit ihrem Finger alles zusammen, ganz lange Finger hat sie, voller Ringe, alle von Pimkie geklaut. Jameelah klaut nicht nur Ringe, auch Parfüm,
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