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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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noch der ausgeklügelten Planung der Anlage, sondern den ganz normalen kleinen Modellbahnhöfen. Es faszinierte ihn, zuzusehen, wie die Züge diese Bahnhöfe passierten oder allmählich ihre Geschwindigkeit drosselten, um dann exakt am Gleis zu halten. Er stellte sich das Kommen und Gehen der Fahrgäste vor, hörte die Durchsagen und die Signale beim Abfahren der Züge und sah die energischen Gesten der Bahnbeamten vor sich. Realität und Fantasie vermischten sich in seinem Kopf, bis er beinahe vor Aufregung zitterte. Warum Bahnhöfe ihn in solche Begeisterung versetzten, konnte er niemandem erklären. Und selbst wenn, hätte man ihn ohnehin nur für ein sehr seltsames Kind gehalten. Mitunter fand Tsukuru ja sogar selbst, dass mit ihm einiges nicht stimmte.
    Obwohl er keine besonderen Eigenschaften besaß und die Neigung hatte, stets am liebsten den mittleren Weg einzuschlagen, schien er sich von den Menschen um ihn herum zu unterscheiden. Er hatte etwas an sich, das nicht als normal zu bezeichnen war. Diese widersprüchliche Erkenntnis seiner selbst hatte ihn von Jugend an verwirrt. Nun war er sechsunddreißig, und sie tat es noch immer. Manchmal mehr, manchmal weniger.
    Mitunter fragte Tsukuru sich, warum er überhaupt in die Clique aufgenommen worden war. Wozu konkret brauchten ihn die anderen? Wären die vier ohne ihn nicht vielleicht sogar unbeschwerter gewesen? Oder hatten sie es nur noch nicht bemerkt? Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis es ihnen bewusst wurde. Je mehr Tsukuru darüber nachdachte, desto weniger verstand er es. Den eigenen Wert bemessen zu wollen ähnelte dem Versuch, eine Substanz zu wiegen, für die es keine Maßeinheit gab. Wo sollte da der Zeiger einrasten?
    Er schien jedoch der Einzige zu sein, den diese Frage beschäftigte. Denn es war ganz offensichtlich, dass es den anderen Spaß machte, ihn dabeizuhaben. Für ihre Unternehmungen mussten sie eben genau fünf sein. Nicht mehr und nicht weniger. Ebenso wie ein Pentagon erst durch fünf gleich lange Seiten entsteht. Es war ihren Gesichtern deutlich anzusehen.
    Dann war Tsukuru Tazaki stolz und glücklich, ein unentbehrlicher Teil dieses Fünfecks zu sein. Er liebte seine vier Freunde und das Gefühl von Einigkeit, wenn er mit ihnen zusammen war. Wie junge Bäume Nährstoffe aus der Erde ziehen, erhielt Tsukuru die Nahrung, die er in der Pubertät brauchte, von seinen Freunden. Sie gab ihm die Kraft für sein Wachstum und war ein Wärmespeicher für Notzeiten in seinem Körper. Doch im Grunde seines Herzens lebte er ständig in der Furcht, irgendwann aus dieser vertrauten Gemeinschaft zu fallen oder ausgestoßen und allein zurückgelassen zu werden. Wie ein düsterer, unheilvoller Felsen bei Ebbe aus dem Meer auftaucht, stieg diese Angst immer wieder in ihm hoch.
    »Du hast dich also schon, als du noch ganz klein warst, für Bahnhöfe interessiert«, sagte Sara Kimoto verwundert.
    Tsukuru nickte unsicher. Er wollte nicht, dass sie ihn für einen eigenbrötlerischen Fachidioten hielt, der ständig wieder von seiner Arbeit und seinem Ingenieurstudium anfing. Aber im Grunde war es ja wirklich so. »Ja, schon als Kind«, gab er zu.
    »Hört sich nach einem ziemlich konsequenten Lebensweg an.« Sie sagte es amüsiert, aber ohne negativen Unterton.
    »Ich kann nicht erklären, warum es ausgerechnet Bahnhöfe sein müssen.«
    Sara lächelte. »Das ist sicher eine Berufung.«
    »Mag sein«, sagte Tsukuru.
    Wie waren sie überhaupt auf dieses Thema gekommen? Was damals passiert war, lag schon so lange zurück, und er hätte es am liebsten ganz aus seinem Gedächtnis getilgt. Aus irgendeinem Grund bestand Sara darauf, mehr über seine Schulzeit erfahren zu wollen. Wie er als Schüler gewesen sei und was er gemacht habe. Und ehe er sichs versah, hatte er im Eifer des Gefechts von seinen Freunden erzählt. Den farbigen vieren und dem farblosen Tsukuru Tazaki.
    Die beiden saßen in einer kleinen Bar am Rand von Ebisu. Sie hatten eigentlich in ein kleines Lokal mit japanischen Spezialitäten gehen wollen, das Sara kannte, aber sie hatte keinen Appetit, da sie spät zu Mittag gegessen hatte. Also sagten sie die Reservierung ab und beschlossen, fürs Erste einen Cocktail zu nehmen und Käse und Nüsse dazu zu knabbern. Tsukuru hatte nichts dagegen einzuwenden, da er selbst nicht besonders hungrig war. Er war ohnehin kein großer Esser.
    Sara war zwei Jahre älter als Tsukuru und in einem großen Reisebüro beschäftigt. Sie organisierte
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