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Galgenweg

Galgenweg

Titel: Galgenweg
Autoren: Brian McGilloway
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    Sonntag, 30.   Mai
    James Kerr kehrte an einem stürmischen Vormittag im Mai nach Lifford zurück. Wolkenmassen jagten nordwärts über den Himmel. Die Luft war die Woche über immer schwüler geworden, bis sich ein nächtliches Gewitter zusammengebraut hatte, dessen letzte Ausläufer sich nun vom County Donegal in der Republik Irland über die Grenze bis ins nordirische County Tyrone zogen.
    Als Kerr von Strabane aus den Grenzübergang nach Süden passierte, kämpfte er mit einem bunten Regenschirm, der im starken Wind umgeschlagen war und dessen lädierte Metallstreben an die gebrochenen Flügel eines Vogels erinnerten.
    Ein Auto voller junger Leute aus dem Norden brauste von hinten an ihm vorbei und fuhr absichtlich so durch die große Pfütze am Straßenrand, dass Kerr vom Wasser getroffen wurde und seine Hose sich sofort dunkel verfärbte. Der Wagen zog einen schillernden Gischtbogen hinter sich her. Das Gelächter, das aus dem beschleunigenden Auto drang, wurde möglicherweise vom Knattern des Schirms im Wind übertönt, doch die jubelnden Handbewegungen der Insassen waren für James Kerr durchs Heckfenster deutlich zu erkennen. In diesem Augenblick müssen sie wohl den Polizeiwagen entdeckt haben, in dem ich an der Grenze wartete, denn sie wurden sofort langsamer und legten hastig die Sicherheitsgurte an. Ich gab über Funk die Anweisung durch, dass jemand ein Auge auf die Jugendlichen werfen sollte, dann zündete ich mir eine Zigarette an und wartete darauf, dass Kerr mein Auto erreichte.
    Ich hatte Kerr nie zuvor gesehen, aber ich erkannte ihn sofort, mein Superintendent Olly »Elvis« Costello hatte mir ein Polizeifoto mitgegeben. Es war zehn Jahre zuvor aufgenommen worden, als Kerr eigentlich noch ein halbes Kind gewesen war. Damals hatte er dicke, krause Haare gehabt, der Pony hatte ihm ins Gesicht gehangen und war an den Rahmen seiner billigen Brille gestoßen. Er hatte versucht, spöttisch in die Kamera zu grinsen, doch seinen Augen war die Panik anzusehen. Sie waren geschwollen gewesen, die Pupillen geweitet, das Weiße gelblich – vermutlich vor Erschöpfung und Schlafmangel. Seine Haut war ganz glatt gewesen, ohne jeden Anflug von Stoppeln oder Bartwuchs, wie man es sonst von Täterfotos kennt.
    Ich wandte meine Aufmerksamkeit von dem Bild, das ich hinter die Sonnenblende geklemmt hatte, dem Mann selbst zu, der nun mein Auto erreichte. Seit der Aufnahme des Fotos hatte er an Gewicht verloren. Die Haare waren sehr kurz rasiert, sodass die eigentümliche Form seines Schädels zu erkennen war. Er trug noch immer eine Brille. Die Gläser waren voller Regentropfen, und er hatte einige Mühe, meinen Wagen zu erkennen. Als er auf einer Höhe mit mir war, kurbelte ich das Fenster herunter.
    »James Kerr?« Er nickte, schwieg jedoch. »Willkommen zu Hause. Kann ich Sie irgendwo absetzen?«
    »Nein, danke«, erwiderte er, während sein Regenschirm erneut umschlug.
    »Steigen Sie schon ein, James«, sagte ich und ließ den Motor an.
    Er zögerte, als dächte er über mein Angebot nach, und blickte die Straße auf und ab. Schließlich öffnete er die hintere Tür und warf seine blaue Segeltuchtasche auf den Rücksitz. Er strich seinen Regenschirm glatt und legte ihn in den Fußraum, als wollte er nicht, dass die Polsterung nass wurde. Dann setzte er sich auf den Beifahrersitz.
    »Ich möchte in der nächsten Zeit lieber nicht mehr hinten in einem Polizeiwagen sitzen«, erklärte er und nahm die Brille ab, weil sie sofort beschlagen war.
    »Wie Sie wollen, James. Ich bin DI Devlin. Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet.« Ich reichte ihm die Hand, doch er wischte sich gerade den Regen aus dem Gesicht. Er fuhr sich über den Kopf, als wollte er Haare zurückstreichen, dann schüttelte er seine nassen Hände über dem Fußraum. Mit einem entschuldigenden Lächeln wischte er sich die rechte Hand am Hosenbein ab und drückte mir schließlich kraftlos die Hand.
    Sobald er neben mir saß, roch ich seine ungewaschenen Kleider und nahm seinen Mundgeruch wahr. Seine Jeans war einst wohl hellblau gewesen, doch nun war sie voller Flecken und wies dort, wo Regen und Pfützenwasser sie durchnässt hatten, dunkle Stellen auf. Kerr trug ein gelbes geripptes T-Shirt und darüber eine graue Wollstrickjacke. Sein Atem roch nicht nach Alkohol, was ungewöhnlich war für einen Mann, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war. Aber James Kerr war ja auch ein ungewöhnlicher Mensch.
    Kerr hatte den Großteil seines
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