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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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Berman auf, setzte die Nadel in die Rille und lauschte andächtig der Musik. Das Seeufer in Hämeenlinna tauchte vor ihm auf. Die weißen Spitzengardinen wehten in der Brise, und die Wellen stießen das kleine Boot gegen den Anlegesteg. Im Wald brachten geduldige Vogeleltern ihren Kleinen das Zwitschern bei. Eris Haar verströmte den Duft ihres Zitronenshampoos. Die Üppigkeit und Fülle ihrer Brust war wie ein Sinnbild des Überlebens für ihn. Der mürrische alte Mann, der ihm den Weg gewiesen hatte, spuckte zähen Speichel auf die sommerliche Wiese. Der Hund sprang glücklich bellend auf die Ladefläche des Renaults. Während Tsukuru sich diesen Erinnerungen hingab, kehrte der Schmerz in seiner Brust zurück, den er dort empfunden hatte.
    Tsukuru trank seinen Cutty Sark und genoss den Duft. Er spürte seine Wärme im Magen. Vom Sommer bis zum Winter seines zweiten Studienjahres, in den Tagen, als er nur ans Sterben gedacht hatte, hatte er jeden Abend ein kleines Glas Whisky getrunken. Sonst hatte er nicht schlafen können.
    Das Telefon klingelte, und er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Er erhob sich vom Sofa, nahm den Tonarm von der Platte und stellte sich vor das Telefon. Es war sicher Sara. Wer sonst würde ihn um diese Uhrzeit anrufen? Wahrscheinlich hatte sie gemerkt, dass Tsukuru sie angerufen hatte, und rief jetzt zurück. Er überlegte, ob er abheben sollte. Es klingelte zwölf Mal. Stumm und mit angehaltenem Atem starrte er das Telefon an. Wie jemand, der einen Schlüssel zur Lösung einer langen, komplizierten Formel auf einer Tafel sucht und ein wenig zurückweicht, um sie noch genauer in Augenschein zu nehmen, aber nichts entdecken kann. Irgendwann hörte es auf zu klingeln, und Stille trat ein. Eine tiefe, vielsagende Stille.
    Um sie zu füllen, setzte Tsukuru die Nadel wieder auf die Platte, ging zum Sofa zurück und hörte weiter Musik. Diesmal bemühte er sich, an nichts Konkretes zu denken. Er schloss die Augen, leerte seinen Geist und konzentrierte sich nur auf die Musik. Bald tauchten, wie von der Melodie angelockt, gewisse Bilder hinter seinen Augenlidern auf – tauchten auf und verschwanden wieder. Es war eine Reihe von Schemen ohne Form und Inhalt. Verschwommen stiegen sie vom dunklen Rand seines Bewusstseins auf, durchquerten lautlos sein Gesichtsfeld und gelangten auf die andere Seite, wo sie verschluckt wurden und verschwanden. Wie winzige Lebewesen mit einem rätselhaften Umriss, die die Linse eines Mikroskops durchquerten.
    Nach fünfzehn Minuten klingelte das Telefon wieder, aber Tsukuru hob nicht ab. Diesmal stellte er auch die Musik nicht ab, blieb auf dem Sofa sitzen und starrte nur auf den schwarzen Apparat. Er zählte auch nicht mit, wie oft es läutete. Irgendwann verstummte es, und nur die Musik ertönte noch.
    Sara, dachte Tsukuru. Ich möchte deine Stimme hören. Mehr als alles andere. Aber ich kann jetzt nicht mit dir sprechen.
    Vielleicht wird Sara sich morgen nicht für mich, sondern für den anderen Mann entscheiden, dachte Tsukuru, während er mit geschlossenen Augen auf dem Sofa lag. Das konnte durchaus geschehen und wäre für sie vielleicht sogar die bessere Wahl.
    Tsukuru wusste nicht, was für ein Mensch dieser andere war, welche Art von Beziehung die beiden verband oder wie lange sie sich schon kannten. Er wollte es auch gar nicht wissen. Er konnte sich nur eingestehen, dass er Sara momentan wenig zu bieten hatte. Nur eine sehr begrenzte Anzahl und Art von hauptsächlich belanglosen Dingen. Wer konnte so jemanden ernsthaft wollen?
    Sara sagt, sie empfinde Zuneigung für mich. Wahrscheinlich stimmt das sogar. Aber es gibt so vieles auf der Welt, das sich mit Zuneigung allein nicht lösen lässt. Das Leben ist lang und manchmal grausam. Mitunter wird ein Opfer gebraucht, und irgendjemand muss herhalten. Der Körper des Menschen ist fragil, leicht verletzlich und so beschaffen, dass er blutet, wenn man hineinschneidet.
    Falls Sara sich morgen nicht für mich entscheidet, werde ich wirklich sterben, dachte Tsukuru. Es ist kein großer Unterschied, ob ich wirklich sterbe oder nur metaphorisch. Aber diesmal werde ich bestimmt meinen letzten Atemzug tun. Der farblose Herr Tazaki wird völlig seine Farbe verlieren und still aus dieser Welt scheiden. Alles wird zu nichts, und bleiben wird nur eine Handvoll hart gefrorener Erde.
    Der Gedanke ist mir so vertraut, dass eigentlich nichts Verwunderliches daran wäre, wenn es wirklich geschähe. Es ist nicht mehr als ein
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