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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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hatten, sprechen nur selten gern über ihre Mühen. Vermutlich ziehen sie es vor, sich nicht daran zu erinnern. Jedenfalls hatte Tsukurus Vater ohne Zweifel über einen außergewöhnlichen Geschäftssinn verfügt. Er hatte das Talent gehabt, alles Wichtige auf Anhieb zu erfassen und das, was unwichtig war, radikal auszublenden. Seine älteste Tochter hatte zumindest etwas von dieser Begabung geerbt. Die jüngere dagegen war gesellig und leichtlebiger, darin kam sie nach ihrer Mutter. Tsukuru hatte von keinem seiner beiden Elternteile etwas mitbekommen.
    Sein Vater hatte über fünfzig Zigaretten am Tag geraucht und war an Lungenkrebs gestorben. Als Tsukuru ihn zuletzt im Stadtkrankenhaus von Nagoya besuchte, konnte er nicht mehr sprechen. Damals schien es ihm, als wolle sein Vater ihm etwas mitteilen, aber es war nicht mehr dazu gekommen. Einen Monat später tat er in seinem Bett im Krankenhaus seinen letzten Atemzug. Er hinterließ Tsukuru die Wohnung in Jiyugaoka, ein Bankkonto mit einer anständigen Summe auf seinen Namen und die mechanische Armbanduhr von TAG Heuer.
    Nein, noch etwas hatte er ihm hinterlassen: den Namen Tsukuru Tazaki.
    Als Tsukuru seinem Vater eröffnete, er wolle an der Technischen Hochschule in Tokio studieren, war dieser nicht wenig enttäuscht, dass sein einziger Sohn überhaupt kein Interesse zeigte, die Immobilienfirma zu übernehmen, die er aufgebaut hatte. Andererseits hatte er nichts dagegen, dass Tsukuru Ingenieur werden wollte. »Wenn das dein Wunsch ist, kannst du in Tokio studieren, ich bezahle es dir gern«, sagte sein Vater. »Ein technischer Beruf ist immer eine gute Sache. Konkrete Dinge zu schaffen hat einen Nutzen für die Welt. Also studiere nur ordentlich und baue Bahnhöfe, so viele du willst.« Sein Vater schien sich zu freuen, dass er ihm den Namen »Tsukuru« nicht umsonst gegeben hatte. Es war wohl das erste und das letzte Mal, dass er seinem Vater Freude gemacht hatte, oder zumindest, dass dieser ihm seine Freude so deutlich gezeigt hatte.
    Pünktlich nach Fahrplan fuhr der Express nach Matsumoto um neun Uhr ab. Tsukuru saß auf seiner Bank und schaute zu, wie die Lichter sich entfernten und der schneller werdende Zug schließlich in der Sommernacht verschwand. Als nichts mehr von ihm zu sehen war, erschien ihm seine Umgebung plötzlich verlassen. Die Lichter der Stadt schienen um einiges schwächer geworden zu sein. Es war wie bei einer Bühne, nachdem der Vorhang gefallen und die Lichter erloschen sind. Tsukuru stand auf und stieg langsam die Treppe hinunter.
    Er verließ den Bahnhof, ging in ein kleines Restaurant in der Nähe, setzte sich an den Tresen und bestellte Hackbraten mit Kartoffelsalat. Von beidem ließ er die Hälfte übrig. Nicht dass es ihm nicht geschmeckt hatte. Das Lokal war für seinen Hackbraten berühmt. Er hatte nur keinen Appetit. Auch das Bier trank er wie üblich nur zur Hälfte.
    Anschließend fuhr er mit der Bahn nach Hause und nahm eine Dusche. Er seifte sich gründlich ein und wusch allen Schweiß herunter. Er zog seinen olivgrünen Bademantel an (das Geschenk einer Freundin zu seinem dreißigsten Geburtstag), setzte sich auf den Balkon und lauschte im Abendwind dem dumpfen Raunen der Stadt. Es war schon fast elf, aber er war nicht müde.
    Tsukuru erinnerte sich an die Zeit an der Universität, als er Tag für Tag an nichts anderes als an den Tod gedacht hatte. Das war nun schon sechzehn Jahre her. Damals hatte er geglaubt, sein Herz würde einfach von selbst stehen bleiben, wenn er nur intensiv genug in sich hineinstarrte. Er hatte geglaubt, er könne durch angestrengte geistige Konzentration seinem Herzen eine tödliche Wunde zufügen, so wie man mit durch eine Linse gebündelten Sonnenstrahlen Papier in Brand zu setzen vermag. Doch trotz seines inständigen Vorsatzes hörte sein Herz auch nach mehreren Monaten nicht auf zu schlagen. So leicht lässt ein Herz sich nicht zum Stillstand bringen.
    Von ferne ertönten die Geräusche eines Hubschraubers. Er schien näher zu kommen, denn das Dröhnen wurde zunehmend lauter. Tsukuru schaute suchend zum Himmel. Vielleicht brachte er einen Boten mit einer wichtigen Nachricht. Doch der Lärm des Propellers entfernte sich, ohne dass er den Hubschrauber zu sehen bekam, und verklang bald in westlicher Richtung. Zurück blieb nur das Rauschen der nächtlichen Großstadt.
    Vielleicht wollte Shiro damals die Fünfergruppe auflösen, schoss es Tsukuru plötzlich durch den Kopf. Diese Möglichkeit nahm
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