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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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verschwindet. Dem oder der Betroffenen bleibt nichts anderes übrig, als den ganzen Tag mit nur einem Schuh herumzulaufen.
    Anfang der 1990er-Jahre, als die japanische Wirtschaftsblase noch nicht geplatzt war, brachte eine namhafte amerikanische Zeitung ein Foto von Menschen, die an einem Wintermorgen zur Hauptverkehrszeit im Bahnhof Shinjuku (vielleicht war es auch der Bahnhof Tokio, aber darauf kommt es nicht an) eine Treppe hinunterströmen. Alle dort abgebildeten Pendler halten wie auf ein Kommando den Blick gesenkt. Ihre Mienen sind düster und leblos und erinnern an Dosenfische. »Japan ist reich geworden. Aber die Mehrheit der Japaner wirkt nicht gerade glücklich«, lautete die Bildunterschrift. Das Foto wurde berühmt.
    Tsukuru wusste nicht, ob wirklich die Mehrzahl seiner Landsleute unglücklich war. Der wahre Grund für die gesenkten Blicke der Pendler schien eher ihre Konzentration auf die Stufen als eine landesweite Depression zu sein. Auf einer so überfüllten Treppe nicht auszugleiten oder einen Schuh zu verlieren – und das zur Hauptverkehrszeit auf einem riesigen Bahnhof – stellt eine erhebliche Herausforderung dar. Aber das Foto gab keinen Aufschluss über diese faktischen Hintergründe. Außerdem wirken Leute in dunklen Mänteln, die zu Boden schauen, nur in den seltensten Fällen glücklich. Andererseits war es nicht völlig unberechtigt, eine Gesellschaft, in der man jeden Morgen fürchten muss, auf dem Bahnhof einen Schuh zu verlieren, als unglücklich zu bezeichnen.
    Tsukuru überlegte, wie viele Stunden diese Menschen täglich mit Pendeln verbrachten. Durchschnittlich brauchten sie für eine Wegstrecke eine bis anderthalb Stunden. Wenn ein normaler Angestellter, ein Familienvater mit ein oder zwei Kindern, der in der Innenstadt arbeitete, ein Haus haben wollte, musste es auf jeden Fall außerhalb liegen, das hieß, er brauchte von den vierundzwanzig Stunden eines Tages allein zwei oder drei Stunden nur für Hin- und Rückfahrt. Wenn er Glück hatte, konnte er in der vollen Bahn vielleicht Zeitung oder ein Taschenbuch lesen. Oder auf dem iPod Symphonien von Haydn hören oder spanische Konversation üben. Der eine oder andere besaß vielleicht auch die Fähigkeit, seine Augen zu schließen und sich in tiefgründige metaphysische Überlegungen zu versenken. Doch im Allgemeinen bezeichnete wohl kaum jemand diese zwei oder drei Stunden als besonders nutzbringende und schöne Zeit in seinem Leben. Wie viele Stunden ihrer Lebenszeit wurden den Menschen durch dieses (vermutlich) sinnlose Hin und Her geraubt? Wie stark erschöpfte es sie und rieb sie auf?
    Allerdings war das kein Problem, mit dem Tsukuru Tazaki sich zu beschäftigen hatte. Sein Beruf war die Konstruktion und der Umbau von Bahnhöfen. Jeder hatte sein eigenes Leben. Es waren die Leben der Anderen und nicht das von Tsukuru Tazaki. Jeder musste für sich beurteilen, wie glücklich oder unglücklich die Gesellschaft war, in der er lebte. Er hatte nur darüber nachzudenken, wie man gewaltige Menschenmassen sicher und effizient durch Bahnhöfe lenkte. Dazu waren keine tiefgründigen Betrachtungen erforderlich. Mehr als die praktische und korrekte Ausführung seiner Aufgaben wurde von ihm nicht verlangt. Er war weder Denker noch Soziologe, sondern nur ein Ingenieur.
    Tsukuru Tazaki liebte es, am Bahnhof Shinjuku die Züge der Japan Railways zu beobachten. Zu diesem Zweck kaufte er sich am Automaten eine Bahnsteigkarte und stieg zu den Gleisen 9 und 10 hinauf, wo die Fernzüge der Chuo-Linie nach Matsumoto oder Kofu abfuhren. Verglichen mit anderen Bahnsteigen war hier entsprechend der geringeren Zahl der ankommenden und abfahrenden Züge auch die Menge der Fahrgäste begrenzt. Er setzte sich auf eine Bank, von der aus er in aller Ruhe das Treiben beobachten konnte.
    Tsukuru besuchte Bahnhöfe, wie andere Menschen ins Konzert, ins Kino, zum Tanzen in Clubs oder zu Sportveranstaltungen gingen oder einen Schaufensterbummel machten. Wenn er Zeit hatte und nicht wusste, was er tun sollte, ging er zum Bahnhof. Auch wenn ihn etwas beunruhigte oder er über etwas nachdenken wollte, führten ihn seine Schritte fast automatisch dorthin. Er setzte sich auf eine Bank auf dem Bahnsteig und überprüfte in einem kleinen Fahrplan (den er stets bei sich trug) die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge, während er einen Kaffee trank, den er sich am Kiosk gekauft hatte. Damit konnte er Stunden verbringen. In seiner Studentenzeit hatte er sich auch mit den
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