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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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gemeinsam eine staatliche Oberschule in einem Vorort von Nagoya besucht. Anschließend hatte Tsukuru seine Heimatstadt verlassen, um in Tokio zu studieren. Insofern hatte das Zerwürfnis keine peinlichen Auswirkungen auf seinen Alltag. Er brauchte nicht zu fürchten, ihnen zufällig auf der Straße zu begegnen. Aber das war bloße Theorie. Denn eigentlich verschärfte die räumliche Trennung Tsukurus Schmerz, und er litt umso mehr. Die Entfernung und seine Einsamkeit verbanden sich zu einem Kabel von mehreren Hundert Kilometern Länge, straff gespannt von einer gewaltigen Winde. Über diese Leitung erreichten ihn Tag und Nacht komplizierte Botschaften. Sirrend und mit wechselnder Intensität wie das scharfe Pfeifen des Windes, der durch Bäume fegt, bohrten sie sich in seine Ohren.
    Die drei Jungen und die beiden Mädchen hatten sich in der zehnten Klasse eher zufällig zusammengefunden, waren aber bis zum Ende der Schulzeit eine verschworene Gruppe geblieben. Als Hausaufgabe für Sozialkunde hatten in den Sommerferien mehrere Projekte zur Auswahl gestanden, unter anderem die Betreuung von Grundschülern, die im Unterricht nicht gut mitkamen. Die fünf waren die Einzigen aus ihrer Klasse von fünfunddreißig, die sich für dieses von einer katholischen Einrichtung ins Leben gerufene Projekt entschieden und an dem dreitägigen Sommerlager vor den Toren der Stadt Nagoya teilnahmen. Die Kinder wuchsen ihnen so sehr ans Herz, dass sie die Arbeit später aus eigenem Antrieb fortsetzten.
    In ihrer Freizeit unternahmen sie Wanderungen, spielten Tennis, fuhren auf die Halbinsel Chita zum Baden oder trafen sich bei jemandem zu Hause, um zu lernen. Oder (was am häufigsten vorkam) sie steckten irgendwo die Köpfe zusammen und redeten endlos. Sie hatten keine bestimmten Themen, aber der Gesprächsstoff ging ihnen nie aus.
    Bei den freimütigen Gesprächen, die sie in den Arbeitspausen führten, stellte sich heraus, dass die fünf charakterlich und in ihren Ansichten gut zusammenpassten. Sie vertrauten einander ihre Hoffnungen und Probleme an. Nach dem Sommerlager hatten alle fünf das Gefühl, genau am rechten Ort zu sein und wahre Freunde gefunden zu haben. Die jeweils anderen vier zu brauchen und von ihnen gebraucht zu werden gab ihnen das Gefühl ausgewogener Freundschaft. Es war wie bei einer zufälligen, aber gelungenen chemischen Verbindung. Selbst bei Verwendung der exakt gleichen Inhaltsstoffe würde kaum noch einmal das gleiche Ergebnis zustande kommen.
    Auch nach den Ferien arbeiteten die Freunde noch an zwei Wochenenden im Monat mit den Kindern, lernten, lasen und trieben Sport mit ihnen. Außerdem halfen sie im Garten und beim Anstreichen des Gebäudes oder reparierten Spielgerät. So führten sie das Projekt etwa zweieinhalb Jahre bis zu ihrem Schulabschluss weiter.
    Allerdings beinhaltete die Zusammensetzung der Gruppe von Anfang an ein gewisses Spannungsverhältnis. Hätten sich zwei Paare gebildet, wäre einer zwangsläufig zum fünften Rad am Wagen geworden. Diese Möglichkeit schwebte wie eine feste, kleine Lenticulariswolke ständig über ihnen. Dennoch kam es nie dazu, und es gab auch keine Anzeichen, dass es je dazu kommen würde.
    Ich weiß nicht, ob man es einen Zufall nennen kann, aber alle fünf stammten aus der oberen Mittelschicht und wohnten am Stadtrand. Ihre Eltern gehörten zu den sogenannten geburtenstarken Jahrgängen, und die Väter waren entweder selbstständig oder in namhaften Firmen angestellt. An der Ausbildung der Kinder wurde nicht gespart. Die Familienverhältnisse wirkten zumindest nach außen hin geordnet, Eltern, die geschieden waren, gab es nicht, und die Mütter waren meist zu Hause. Da die Schule eine Aufnahmeprüfung verlangte, war der allgemeine Notendurchschnitt recht hoch. Die Lebensumstände der fünf Freunde wiesen also mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf.
    Allerdings hatten die anderen vier eine weitere zufällige Gemeinsamkeit, die Tsukuru Tazaki als Einziger nicht teilte. In jedem ihrer Nachnamen kam eine Farbe vor. Die beiden Jungen hießen Akamatsu – Rotkiefer – und Oumi – blaues Meer. Die beiden Mädchen Shirane – weiße Wurzel – und Kurono – schwarzes Feld. Nur der Name Tazaki beinhaltete keine Farbe, und Tsukuru fühlte sich deshalb von Anfang an ein wenig ausgeschlossen. Natürlich war es keine Frage des Charakters, ob jemand eine Farbe in seinem Namen hatte oder nicht. Das wusste er schon. Aber er fand es doch schade, und zu seinem eigenen
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