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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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dem Projekt Klavierunterricht gab. Niemals sonst hatte Tsukuru sie so entspannt und heiter gesehen. Einige Kinder hätten eine natürliche musikalische Begabung, sagte sie, die aber im normalen Unterricht nicht zum Vorschein komme, und es sei schade, wenn sie verborgen bliebe. Die Schule besaß jedoch nur ein äußerst antiquiertes Klavier. Also starteten die fünf eine Spenden- und Sammelaktion für ein neues Klavier und suchten sich Jobs für die Ferien. Und in der zwölften Klasse im Frühjahr waren ihre Bemühungen dann von Erfolg gekrönt, und es gelang ihnen, einen Flügel zu erwerben. Schließlich berichtete sogar eine Zeitung über ihr Projekt.
    Shiro war für gewöhnlich still. Aber sie war sehr tierlieb, und wenn das Gespräch auf Hunde oder Katzen kam, taute sie auf und wurde ganz redselig. Sie träumte davon, Tierärztin zu werden, doch Tsukuru konnte sich einfach nicht vorstellen, wie sie einem Labrador mit dem Skalpell den Bauch aufschnitt oder ihren Arm in den Anus eines Pferdes steckte. Shiros Vater hatte eine gynäkologische Praxis in Nagoya.
    Kuro sah kaum besser aus als der Durchschnitt. Doch ihre lebhafte Ausstrahlung verlieh ihr einen besonderen Charme. Sie war groß und füllig und hatte schon mit sechzehn einen üppigen Busen. Sie war sehr unabhängig und hatte eine starke Persönlichkeit. Sie dachte und sprach schnell. In den geisteswissenschaftlichen Fächern waren ihre Noten exzellent, aber in Mathematik und Physik leider grauenhaft. Ihr Vater war Steuerberater, aber sie war ihm nicht die geringste Hilfe. Und Tsukuru musste ihr oft bei den Hausaufgaben in Mathematik zur Seite stehen. Kuro machte gern sarkastische Bemerkungen, sie hatte einen einmaligen Sinn für Humor, und eine Unterhaltung mit ihr war immer lustig und anregend. Sie war eine unermüdliche Leserin und hatte ständig ein Buch in der Hand.
    Shiro und Kuro waren seit dem siebten Schuljahr in einer Klasse, kannten sich also schon lange, bevor die fünf eine Clique geworden waren. Zusammen gaben die beiden ein hübsches Bild ab: die schüchterne, musisch begabte Schöne und die witzige, scharfsinnige Zynikerin. Ein unverwechselbares und faszinierendes Duo.
    Tsukuru Tazaki war der Einzige in der Gruppe, der über keine besonderen individuellen Eigenschaften oder Talente verfügte. Seine Noten lagen im oberen Durchschnitt. Er hatte kein großes Interesse am Lernen, aber da er dem Unterricht aufmerksam folgte, kam er mit einem Minimum an Vor- und Nachbereitung aus. Das hatte er sich schon in seiner Kindheit angewöhnt. Wie das Händewaschen vor dem Essen und das Zähneputzen danach. Daher kam er in allen Fächern, auch wenn seine Noten nicht aufsehenerregend waren, ohne größeren Aufwand gut mit. Solange es keine Probleme gab, machten seine Eltern kein übermäßiges Wesen um seine Noten und verschonten ihn mit Nachhilfestunden und Ähnlichem.
    Er hatte nichts gegen Sport, aber er trat keinem Verein bei. Allerdings spielte er mit Verwandten oder Freunden Tennis, lief Ski oder ging schwimmen. Er hatte regelmäßige Gesichtszüge und bekam das auch manchmal von Leuten gesagt, was im Grunde heißen sollte, dass er »nicht so schlecht« aussah. Er selbst fand sein Spiegelbild immer wieder langweilig und nichtssagend. Er hatte kein Interesse an Kunst und keine nennenswerten Fähigkeiten oder Hobbys. Er sprach langsam, errötete häufig, war ungewandt im gesellschaftlichen Umgang und aufgeregt, wenn er jemandem zum ersten Mal begegnete.
    Seine hervorstechende Eigenschaft, wenn man es so nennen wollte, bestand darin, dass seine Familie die wohlhabendste war. Seine Großmutter mütterlicherseits war eine zumindest regional recht berühmte Schauspielerin gewesen. Tsukuru hatte jedenfalls keine besondere Begabung, auf die er stolz sein oder mit er sich vor anderen hervortun konnte. Zumindest fand er das. Er war in allem mittelmäßig. Oder farblos.
    Es gab nur eine Sache, die man vielleicht als sein Hobby hätte bezeichnen können. Tsukuru Tazaki liebte es über alles, sich Bahnhöfe anzuschauen. Warum, wusste er nicht, aber sie faszinierten ihn, seit er denken konnte. Riesige Bahnhöfe mit Hochgeschwindigkeitszügen ebenso wie kleine ländliche mit nur einem Gleis oder Güterbahnhöfe. Alles, was mit Bahnhöfen zu tun hatte, zog ihn unwiderstehlich an.
    Als Kind hatten ihn wie alle Jungen Modelleisenbahnen begeistert, aber seine wahre Vorliebe galt weder den perfekt nachgebauten Lokomotiven und Waggons noch den komplizierten Gleisstellungen
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