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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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Ihre Unis lagen alle so nah, dass sie zu Hause wohnen bleiben konnten. Ich bin als Einziger auf die Technische Hochschule in Tokio gegangen.«
    »Warum wolltest du nach Tokio?«
    »Ganz einfach. Dort lehrte der beste Professor für Bahnhofsarchitektur. Das ist ein besonderes Fach und unterscheidet sich von einem gewöhnlichen Architekturstudium, also hätte es nichts genützt, wenn ich einfach Ingenieurwesen und Architektur studiert hätte. Ich musste mir einen Spezialisten suchen.«
    »Ein festes Ziel erleichtert das Leben«, sagte Sara.
    Tsukuru pflichtete ihr bei.
    »Und die anderen vier sind in Nagoya geblieben, weil sie eure harmonische Gemeinschaft nicht aufgeben wollten?«
    »Als wir in die zwölfte Klasse kamen, haben wir viel über unsere jeweiligen Pläne geredet. Außer mir wollten alle in Nagoya bleiben und dort auf die Uni gehen. Keiner hat es so deutlich gesagt, aber es war klar, dass sie es taten, weil sie die Gruppe nicht auseinanderreißen wollten.«
    Aka hätte bei seinen hervorragenden Noten ganz leicht auf die Universität Tokio gehen können, und seine Eltern und seine Lehrer ermunterten ihn dazu. Auch Ao mit seinen sportlichen Fähigkeiten hätte eine Empfehlung für eine landesweit anerkannte Uni bekommen können. Zu Kuro hätte ein weltstädtischeres Leben mit mehr intellektuellen Anreizen gepasst. Sie hätte auf jeden Fall auf eine Privat-Uni in Tokio gehen können. Nagoya war natürlich auch eine Großstadt, aber es war nicht zu leugnen, dass es im Vergleich zu Tokio in kultureller Hinsicht dort ziemlich provinziell zuging. Dennoch hatten sich alle außer Tsukuru entschlossen, in Nagoya zu bleiben. Alle drei blieben bei der Wahl ihrer Unis unterhalb ihrer Möglichkeiten. Nur Shiro hätte wohl auch ohne die Gruppe Nagoya nie verlassen. Sie war kein Typ, der freiwillig in die Welt hinausging, um neue Anreize zu suchen.
    »Wenn sie mich fragten, was ich machen würde, sagte ich, ich hätte mich noch nicht fest entschieden. In Wirklichkeit wusste ich genau, dass ich in Tokio studieren würde. Auch ich wäre gern bei meinen Freunden in Nagoya geblieben, was in vieler Hinsicht auch einfacher gewesen wäre. Meine Familie war ebenfalls dafür und hoffte insgeheim, ich würde nach der Uni in die Firma meines Vaters einsteigen. Aber ich wusste, wenn ich jetzt nicht ging, würde ich es später bereuen. Ich wollte unbedingt bei diesem Professor studieren.«
    »Ich verstehe«, sagte Sara. »Und wie fanden es die anderen, als du nach Tokio gingst?«
    »Bis heute weiß ich nicht, was sie wirklich dachten. Vielleicht waren sie enttäuscht. Denn durch meine Abreise ging ja unser Zusammengehörigkeitsgefühl verloren.«
    »Die Chemie stimmte nicht mehr.«
    »Früher oder später hätte sich die ohnehin geändert.«
    Aber als seine Freunde erfuhren, dass Tsukurus Entschluss feststand, machten sie keinen Versuch, ihn davon abzubringen. Im Gegenteil, sie ermutigten ihn. Tokio liege nur anderthalb Stunden mit dem Shinkansen entfernt. Er könne doch jederzeit schnell zurückkommen. Außerdem, sagten sie halb im Scherz, würde er vielleicht sowieso durch die Aufnahmeprüfung fallen. Tatsächlich musste Tsukuru, um diese zu bestehen, zum ersten Mal in seinem Leben ernsthaft lernen.
    »Und wie ging es mit der Gruppe weiter, als ihr mit der Schule fertig wart?«, fragte Sara.
    »Am Anfang lief alles sehr gut. Ich fuhr in den Frühjahrs- und Herbstferien, in den Sommerferien, zu Neujahr und überhaupt immer, wenn ich an der Uni freihatte, sofort nach Nagoya, um mit den anderen zusammen zu sein. Wir waren noch genauso eng befreundet wie früher.«
    Sobald Tsukuru nach Hause kam, traf er sich mit seinen Freunden, und sie hatten sich unendlich viel zu erzählen. Sie waren die bewährte Fünfergruppe. (Hatten nicht alle fünf Zeit, trafen sie sich natürlich auch zu dritt oder zu zweit.) Die vier in Nagoya nahmen ihren Freund stets umstandslos wieder auf, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. Zumindest hatte Tsukuru nie den Eindruck, dass die vertraute Atmosphäre von früher sich verändert hatte oder ein unsichtbarer Riss entstanden war. Er war glücklich. Und deshalb machte es ihm auch überhaupt nichts aus, dass er in Tokio nicht einen Freund hatte.
    Sara musterte Tsukuru interessiert. »Du hast dich in Tokio mit niemandem angefreundet?«
    »Es hat irgendwie nicht geklappt. Warum, weiß ich nicht«, sagte Tsukuru. »Ich bin von Natur aus kein sehr geselliger Typ. Aber ich schotte mich auch nicht ab oder so.
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