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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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so aufgefallen, aber ihre Stimmen klangen anders. Als vermieden sie es, freundlich zu ihm zu sein, oder als könnten sie gar nicht schnell genug auflegen. Besonders Shiros zwei Jahre ältere Schwester verhielt sich viel schroffer als sonst. Tsukuru hatte sich immer gut mit ihr verstanden (sie wirkte gar nicht wie eine ältere Schwester und war sehr hübsch) und häufig die Gelegenheit genutzt, ein bisschen mit ihr zu flirten, wenn er Shiro anrief. Zumindest hatten sie sich immer freundlich begrüßt. Aber jetzt legte sie hastig und geradezu angewidert auf. Nachdem er ein weiteres Mal bei allen angerufen hatte, kam Tsukuru sich vor, als trüge er ein gefährliches Virus in sich.
    Ihm wurde klar, dass etwas nicht stimmte. In seiner Abwesenheit musste irgendetwas vorgefallen sein, das die anderen auf Distanz hielt. Etwas Unangenehmes. Aber so sehr er auch grübelte, ihm fiel nicht ein, was es gewesen sein könnte.
    Er verspürte einen anhaltenden Druck auf der Brust, als stecke dort etwas fest, das er weder ausspucken noch herunterschlucken konnte. Er ging den ganzen Tag nicht aus dem Haus und wartete, dass das Telefon klingelte. Er versuchte, sich zu beschäftigen, konnte sich aber auf nichts konzentrieren. Er hatte den vieren wiederholt ausrichten lassen, dass er wieder in Nagoya sei. Normalerweise hätten seine Freunde ihn sofort angerufen und mit Neuigkeiten überschüttet. Doch das Telefon schwieg hartnäckig.
    Gegen Abend überlegte er, ob er von sich aus noch einmal anrufen sollte. Aber dann ließ er es. In Wirklichkeit waren die anderen bestimmt zu Hause, hatten sich aber verleugnen lassen, weil sie nicht mit ihm sprechen wollten. »Wenn Tsukuru Tazaki anruft, sagt, ich bin nicht da«, hatten sie ihre Familien angewiesen. Deshalb hatten diese auch so unbehaglich geklungen.
    Aber warum?
    Er konnte sich keinen Grund vorstellen. Das letzte Mal gesehen hatten sie sich während der Feiertage im Mai. Als Tsukuru wieder nach Tokio zurückfuhr, hatten die vier ihn sogar noch zum Bahnhof gebracht und ihm ausgiebig nachgewinkt wie einem Soldaten, der an die Front zog.
    Danach hatte Tsukuru mehrere Briefe an Aos Adresse geschrieben. Shiro hatte manchmal Probleme mit dem Computer, daher schrieb er klassische Briefe und verschickte sie per Post. Ao übernahm die Rolle des Vermittlers und leitete Tsukurus Briefe an die anderen Mitglieder der Gruppe weiter. So konnte er es sich sparen, vier ähnliche Briefe zu verfassen. Meist schrieb er über sein Leben in Tokio. Was er gesehen, welche Erfahrungen er gemacht, was er dabei empfunden hatte. Und dass er sich bei allem, was er tat, wünschte, seine Freunde könnten dabei sein, und so empfand er es wirklich. Ansonsten schrieb er nichts von Bedeutung.
    Auch die vier hatten immer wieder Briefe an Tsukuru geschrieben, in denen sie nie irgendetwas Negatives erwähnten und nur ausführlich ihre gemeinsamen Unternehmungen in Nagoya schilderten. Offenbar genossen sie das Studentenleben in ihrer Heimatstadt in vollen Zügen. Ao hatte einen gebrauchten Honda Accord gekauft (die Rückbank sehe aus wie eine Hundetoilette, so verschmiert sei sie) und sie hatten einen Ausflug an den Biwa-See gemacht. Fünf Leute passten bequem in den Wagen (solange keiner von ihnen zu fett sei). Schade, dass Tsukuru nicht dabei gewesen sei. Aber sie freuten sich schon auf das Wiedersehen im Sommer. So die letzte Botschaft. Sie war ihm aufrichtig erschienen.
    In dieser Nacht konnte er nicht schlafen. Er war viel zu aufgeregt, und zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Das heißt, eigentlich war es nur ein Gedanke, der verschiedene Formen annahm. Wie jemand, der die Orientierung verloren hat, bewegte Tsukuru sich unablässig im Kreis und gelangte immer wieder an seinen Ausgangspunkt. Bald steckte er fest und konnte weder vor noch zurück. Es war wie bei einem Schraubenkopf ohne Schlitz – er wusste nicht mehr, wo er noch ansetzen sollte.
    Erst gegen vier Uhr morgens schlief er ein, wachte jedoch schon um kurz nach sechs wieder auf. Essen konnte er nichts. Er trank ein Glas Orangensaft, das einen leichten Brechreiz hervorrief. Seine Familie zeigte sich besorgt über seine plötzliche Appetitlosigkeit, doch er redete sich mit einer milden Magenverstimmung heraus.
    Wieder blieb er den ganzen Tag zu Hause. Lag neben dem Telefon und las. Oder besser gesagt, versuchte zu lesen. Kurz nach Mittag rief er wider besseres Wissen noch einmal bei seinen Freunden an. Er ertrug es einfach nicht länger, in dieser
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