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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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    Vom Juli seines zweiten Jahres an der Universität bis zum Januar des folgenden Jahres dachte Tsukuru Tazaki an nichts anderes als an den Tod. Er wurde in jenem Jahr zwanzig, was jedoch keinen nennenswerten Einschnitt für ihn bedeutete, denn zu der Zeit war ihm der Gedanke, sich das Leben zu nehmen, der nächste und natürlichste. Bis heute wusste er nicht, warum er den letzten Schritt nie vollzogen hatte. Denn die Schwelle vom Leben zum Tod zu überschreiten wäre damals so leicht für ihn gewesen, wie ein rohes Ei zu schlucken.
    Vielleicht war seine Sehnsucht nach dem Tod zu wahrhaftig und zu tief, um tatsächlich den Versuch zu machen, sich umzubringen. Zudem konnte er sich keine konkrete Todesart vorstellen. Auch wenn dieses Problem eher zweitrangig war. Hätte es in seiner Reichweite eine Tür gegeben, die direkt in den Tod führte, er hätte sie ohne Zögern aufgestoßen. Ohne zu überlegen, als natürliche Konsequenz. Doch glücklicher- oder unglücklicherweise konnte er eine solche Tür nicht finden.
    Tsukuru Tazaki überlegte oft, ob er damals nicht besser gestorben wäre. Dann würde diese Welt nicht mehr existieren. Ein verlockender Gedanke. Ohne die Existenz dieser Welt wäre das, was jetzt als Realität erschien, keine Realität mehr. So wie die Welt für ihn nicht mehr existieren würde, würde auch er für die Welt nicht mehr existieren.
    Zugleich konnte Tsukuru nie richtig begreifen, warum er damals dem Tod so nah gekommen war. Es hatte zwar einen konkreten Anlass gegeben, aber warum hatte das Verlangen zu sterben solche Macht über ihn gehabt und ihn fast ein halbes Jahr umfangen gehalten? Umfangen – ja, das war genau das richtige Wort. Wie dieser Mann in der Bibel, der von einem Wal verschlungen worden war und in dessen Bauch überlebt hatte, war Tsukuru in den Magen des Todes gestürzt und hatte Tag für Tag in dessen dunkler, dumpfer Höhle verbracht. Ohne jedes Zeitgefühl.
    Er hatte gelebt wie ein Schlafwandler oder wie ein Toter, der noch nicht gemerkt hatte, dass er tot war. Wenn es Morgen wurde, stand er auf, putzte sich die Zähne, zog sich irgendwelche Sachen an, fuhr mit der Bahn zur Universität und schrieb bei den Vorlesungen mit. Er bewegte sich mittels dieses Zeitplans vorwärts, wie jemand, der von einem Orkan überfallen wird, sich von einer Straßenlaterne zur nächsten hangelt. Er sprach mit niemandem, wenn es nicht sein musste, und sobald er zurück in seiner Wohnung war, setzte er sich auf den Boden und lehnte sich an die Wand, um seine Gedanken um den Tod oder die Abwesenheit von Leben kreisen zu lassen. Und gähnend tat sich vor ihm der schwarze Schlund der Verzweiflung auf, der bis in die Tiefen der Erde reichte. Er sah ein wirbelndes, sich zu einer festen Wolke verdichtendes Nichts, während drückende Stille auf seinem Trommelfell lastete.
    Wenn Tsukuru nicht an den Tod dachte, dachte er an gar nichts. Was ihm nicht sonderlich schwer fiel. Er las keine Zeitung, er hörte keine Musik, Appetit hatte er auch keinen. Nichts, was auf der Welt geschah, war für ihn von Bedeutung. Hatte er keine Lust mehr, in der Wohnung zu sitzen, schlenderte er ziellos durch die Nachbarschaft. Oder er ging zum Bahnhof, setzte sich auf eine Bank und beobachtete endlos das Ankommen und Abfahren der Züge.
    Jeden Morgen duschte er und wusch sich die Haare. Zweimal in der Woche machte er die Wäsche. Auch Reinlichkeit war einer der Pfeiler, an denen er sich festhielt. Wäsche waschen, baden, Zähne putzen. Auf seine Ernährung achtete er allerdings kaum. Mittags aß er in der Mensa, davon abgesehen nahm er nur wenig zu sich. Gegen den Hunger kaufte er in einem nahe gelegenen Supermarkt ein paar Äpfel und etwas Gemüse. Mitunter biss er einfach in einen Laib Brot und schüttete die Milch direkt aus der Packung in sich hinein. Vor dem Schlafengehen trank er – sozusagen als Medizin – ein kleines Glas Whisky. Glücklicherweise vertrug er nicht viel, sodass die geringe Menge zum Einschlafen ausreichte. Er träumte nie etwas. Jeder Traum glitt sofort, ohne Halt zu finden, den Abhang seines Bewusstseins hinunter ins Reich des Nichts.
    Der Auslöser für die starke Anziehungskraft, die der Tod auf Tsukuru Tazaki ausübte, war eindeutig. Seine vier engsten Freunde hatten ihm eröffnet, dass sie ihn niemals wiedersehen oder mit ihm sprechen wollten. So unvermittelt wie erbarmungslos. Ohne ihm den Grund für ihr hartes Urteil mitzuteilen. Und er hatte nicht zu fragen gewagt.
    Die fünf Freunde hatten
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