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Weihnachtsengel gibt es doch

Weihnachtsengel gibt es doch

Titel: Weihnachtsengel gibt es doch
Autoren: S Wiggs
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1. KAPITEL
    D er Junge erreichte den Ortsrand in der Abenddämmerung eines Wintertages. Auch wenn noch kein Schnee gefallen war, lag eine erbarmungslose Kälte in der Luft, die Feldern und Wäldern jegliches Leben und alle Farbe auslaugte.
    Die Straße verengte sich zu einer Spur und führte über eine überdachte Brücke, die von uralten Pfeilern aus Flusssteinen gehalten wurde. Im Laufe der Jahre war das Holz verwittert und Planke für Planke ersetzt worden, doch die Brücke selber war dabei unverändert geblieben. Die aufgeworfenen Steine und die verdorrte Vegetation am Flussufer waren von zartem Raureif überhaucht. Die Bäume in den umliegenden Obstgärten und Wäldern hatten schon lange ihre Blätter verloren. Ein Gefühl erstarrter Erwartung erfüllte das Land, als wäre die Bühne für die Aufführung bereit.
    Er verspürte eine ruhige Zielstrebigkeit in sich. Er wusste, dass seine Aufgabe hier nicht einfach sein würde. Herzen würden gebrochen und wieder geheilt werden, Wahrheiten würden enthüllt, Risiken eingegangen werden. Was, wenn er es genauer bedachte, einfach das war, was man Leben nannte – chaotisch, unvorhersehbar, freudig, mysteriös, schmerzvoll und erlösend.
    Ein grün-weißes Schild in Form eines Wappens verriet ihm den Namen der Stadt: Avalon. Ulster County. 1325 m ü. NN.
    Etwas weiter grüßten von einer Plakatwand der Rotary Club, die Kiwanis und mindestens ein Dutzend Kirchen und Gemeindegruppen. Der Willkommensgruß lautete: Avalon – im Herzen des Waldschutzgebiets der Catskills. Ein weiteres Schild forderte die Reisenden auf, den Willow Lake zu besuchen, das „Juwel der Berge“. Diese kleine Übertreibungmochte auf so einige kleine, an den Seen von Upstate New York gelegene Dörfer zutreffen, aber dieses hier hatte die Ernsthaftigkeit und den Charme eines Ortes mit einer langen und komplizierten Vergangenheit.
    Er war eine dieser Komplikationen. In Gänze hatte auch er noch nicht verstanden, was ihn hierher gebracht hatte – ein winziger Blick in die geheimnisvolle Welt des menschlichen Herzens. Vielleicht sollte er gar nicht wissen, warum die Vergangenheit und die Gegenwart zu genau diesem Zeitpunkt kollidieren mussten. Vielleicht reichte es, dass er seine Aufgabe kannte: ein altes Unrecht wiedergutzumachen. Wie genau das vonstattengehen sollte – nun, das war eine weitere Unbekannte, die sich ihm sicher nach und nach enthüllen wür de.
    Die Hauptattraktion des Ortes war ein hübscher, gepflasterter Platz rund um ein gotisch anmutendes Gebäude, in dem sich die Gemeindebüros und das Gericht befanden. Darum herum hatten sich viele kleine Läden und Restaurants angesiedelt, aus deren Fenstern warmes Licht auf die Straße schien. Die ersten Weihnachtsgirlanden und Lichterketten wanden sich um die gusseisernen Gaslaternen rund um den Marktplatz. In der Ferne lag der Willow Lake wie ein breites indigofarbenes Laken unter dem düsteren Himmel; seine Oberfläche war von einer Eisschicht überzogen, die im Laufe des Winters immer dicker werden würde.
    Ein paar Straßenblocks vom Marktplatz entfernt lag der Bahnhof. Gerade war ein Zug eingefahren und spuckte seine Passagiere aus, die von der Arbeit in einer der größeren Städte zurückkehrten – Kingston und New Paltz, Albany und Poughkeepsie, einige kamen sogar ganz aus New York City. Die Menschen eilten zu ihren Autos, begierig darauf, aus der Kälte und zu ihren Familien zu kommen. Es gab so viele Arten, eine Familie zu gründen … und genauso viele, sie zu verlieren. Aber die menschliche Natur war aus Vergebunggeschmiedet, und ein Neuanfang bedurfte vielleicht nur eines Worts oder einer freundlichen Geste.
    Es fühlte sich seltsam an, nach all den Jahren zurück zu sein. Seltsam und … wichtig. Irgendwo lauerte hier Gefahr, ob die Menschen es nun wussten oder nicht. Und irgendwie musste er helfen. Er hoffte nur, dass er es auch konnte.
    Nicht weit entfernt vom Bahnhof lag die Stadtbücherei, ein rechteckiger Bau im griechischen Stil. Der Grundstein war vor genau neunundneunzig Jahren gelegt worden; dieses Datum war ihm ins Herz gebrannt. Der Bau erhob sich inmitten eines mehrere Hektar großen Stadtparks, dessen kahle Bäume und kreuz und quer verlaufende Wege nun verlassen dalagen. Die Bibliothek war auf dem Platz ihrer Vorgängerin errichtet worden, die ein Jahrhundert zuvor bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Dabei war ein Mensch ums Leben gekommen. Nur wenige Menschen kannten die Einzelheiten dessen, was damals
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