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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Autoren: Haruki Murakami
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Last zu fallen, um seine Aufenthaltsgenehmigung nicht zu verlieren. Er lebte sozusagen auf der Flucht vor seinem eigenen Leben. Tokio war die ideale Stadt für Menschen, die die Anonymität suchten.
    Es gab niemanden, den er als engen Freund bezeichnen konnte. Er hatte mehrere Freundinnen gehabt, doch von allen hatte er sich bald in gegenseitigem Einvernehmen getrennt. Keine war bis zu seinem Herzen vorgedrungen. Manchmal war er es, der die Beziehung nicht fortsetzen wollte, manchmal seine Partnerin. Es war halb und halb.
    Als ob mein Leben seit meinem zwanzigsten Lebensjahr stehen geblieben wäre, dachte Tsukuru Tazaki auf seiner Bank auf dem Bahnhof Shinjuku. Danach war nichts Nennenswertes mehr passiert. Die Jahre und Monate waren wie eine sanfte Brise über ihn hinweggestrichen. Ohne Narben, ohne Schmerz, ohne Leidenschaft und ohne glückliche oder traurige Erinnerungen zu hinterlassen. Und allmählich ging er auf seine mittleren Jahre zu. Nein, bis dahin hatte er noch etwas Zeit. Aber jung konnte man ihn nicht mehr nennen.
    Gewissermaßen war auch Eri ein Flüchtling vor dem Leben. Auch sie trug eine Wunde mit sich herum, hatte deshalb alles zurückgelassen und ihre Heimat verworfen. Immerhin war sie zu neuen Ufern aufgebrochen und hatte in Finnland ein neues Zuhause gefunden. Und hatte jetzt einen Mann, zwei Töchter und einen Beruf, in dem sie aufging. Sie hatte ein Sommerhaus und einen lustigen Hund. Sie sprach Finnisch. Sie hatte sich nach und nach ihre eigene Welt geschaffen. Im Gegensatz zu Tsukuru.
    Er warf einen Blick auf die TAG Heuer an seinem linken Handgelenk. Zehn vor neun. Der Express war abfahrtbereit. Die Leute waren eingestiegen und hatten ihr Gepäck verstaut. Sie lehnten sich mit einem Seufzer der Erleichterung in ihren reservierten Sitzen in dem klimatisierten Zug zurück und nahmen einen Schluck von ihrem kalten Getränk. All das konnte er durch die Scheiben beobachten.
    Die Armbanduhr war eines der wenigen greifbaren Dinge, die sein Vater ihm hinterlassen hatte. Ein schönes altes Stück, Anfang der 1960er-Jahre gefertigt. Wenn er sie nicht alle drei Tage aufzog, blieb sie stehen. Aber das störte ihn nicht, eher gefiel ihm, dass sie so rein mechanisch funktionierte. Man konnte sie ein Kunstwerk nennen. Sie enthielt weder einen Quarz noch einen Mikrochip. Alles in ihr wurde durch winzige Federn und Zahnräder bewegt. Und auch nach fast einem halben Jahrhundert unermüdlicher Tätigkeit zeigte sie die Zeit noch erstaunlich genau an.
    Tsukuru hatte sich noch nie selbst eine Uhr gekauft. Stets hatte er irgendwelche billigen Uhren benutzt, die er geschenkt bekommen hatte. Es reichte ihm, wenn sie die Zeit korrekt anzeigten. Er hatte sich nie für Uhren interessiert. Im Alltag genügte ihm das einfachste digitale Modell von Casio. Daher war er auch nicht sonderlich beeindruckt, als er zum Andenken an seinen Vater eine wertvolle TAG Heuer erhielt. Doch mit der Zeit wurde es ihm zur lieben Gewohnheit, sie aufzuziehen, und sie fing an, ihm zu gefallen. Sie hatte gerade das richtige Gewicht, und er mochte ihr leises Ticken. Er schaute jetzt häufiger auf die Uhr als früher. Und jedes Mal strich sacht der Schatten seines Vaters an ihm vorüber.
    In Wahrheit konnte Tsukuru sich nicht gut an seinen Vater erinnern, und der Gedanke an ihn stimmte ihn auch nicht besonders wehmütig. Er wusste nicht mehr, ob er als Kind oder auch später einmal mit seinem Vater irgendwohin gegangen war oder ein ernsthaftes Gespräch mit ihm geführt hatte. Sein Vater war von Natur aus ein wortkarger Mensch gewesen – zumindest zu Hause hatte er kaum den Mund aufgemacht. Außerdem war er sowieso nur selten zu Hause gewesen, weil er immer gearbeitet hatte. Rückblickend betrachtet konnte es sogar sein, dass er eine Geliebte gehabt hatte.
    Tsukuru hatte ihn eher wie einen nahen Verwandten empfunden, der häufig zu Besuch kam. Er war praktisch bei seiner Mutter und seinen älteren Schwestern aufgewachsen. Er wusste fast nichts über das Leben seines Vaters, nicht, was er gedacht hatte, nicht, welche Wertvorstellungen er gehabt oder was er konkret im Alltag getan hatte. Er wusste nur, dass sein Vater in Gifu geboren war, seine Eltern gestorben waren, als er noch klein war, und er dann bei einem Onkel väterlicherseits, einem Priester, aufgewachsen war. Später hatte er die Oberschule beendet, aus dem Nichts eine Firma gegründet und war sagenhaft erfolgreich gewesen. So hatte er sein Vermögen gemacht. Menschen, die es schwer
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