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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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fest?«
    »Mit einer Ammenklemme.«
    »Wie bitte?«
    »Mit einer Sicherheitsnadel.«
    »Und wo finde ich die?«
    »Wir haben keine mehr. Wir haben hier überhaupt nichts mehr, begreifst du das denn nicht? Und jetzt geh zum Hafen und melde dich bei Tenente Cammarano.«
    »Schiffen sie mich ein?«
    »Wo zum Teufel sollen sie dich denn jetzt noch einschiffen? Wir haben keine Schiffe mehr, sie sind alle zerstört. Das Einzige, was uns geblieben ist, sind unsere Augen zum Weinen.«
    Nenè steckte sich die Binde in die Tasche und ging. Kaum war er draußen, waren wieder Flugzeuge am Himmel. Er lief zum nächsten Unterschlupf. Die Flugzeuge hier waren noch erbarmungsloser als die in Vigàta; mit denen war nicht zu spaßen.
    Endlich erreichte er den riesigen Bunker, in dem das Dienstkommando untergebracht war. Der Oberleutnant zur See Cammarano erklärte Nenè, während er eine Sicherheitsnadel suchte, dass die Aufgabe seiner Truppe darin bestehe, Schutt wegzuräumen und Leichen beziehungsweise Leichenteile zu bergen. Nachdem er die Nadel gefunden hatte, befestigte er höchstpersönlich die Binde an Nenès linkem Ärmel. Nenè fragte ihn, wo er sein Gepäck lassen könne.
    »Bett Nummer fünfundzwanzig, unten.«
    Der Schlafsaal war im selben Bunker und bestand aus Doppelstockbetten, in denen jeweils zwei Soldaten Platz fanden. Neben jedem Bett stand eine Holzkiste.
    »Leg deine Sachen hier rein und schreib deinen Namen auf das Schild.«
    Die ganze Nacht über drang das dumpfe Geräusch der explodierenden Bomben in den Bunker. Bei Tagesanbruch standen die Soldaten auf. Draußen war es schon um fünf Uhr morgens so heiß, dass Nenè augenblicklich der Schweiß ausbrach. Am Bunkerausgang nahm sich jeder eine Schaufel. Eine Straße war in der Nacht dem Erdboden gleichgemacht worden, und nun galt es, den Schutt zusammenzutragen. Nenè wusste nicht, wo er anfangen sollte.
    »Du, Matrose, komm hierher!«
    Einer in Zivil, der auf dem Ärmel seines Hemdes die Rangabzeichen eines Hauptgefreiten trug, rief Nenè zu sich.
    »Fang da drüben an zu graben«, sagte er und deutete auf einen hohen Schutthaufen. »Das war einmal ein Puff.«
    »Glauben Sie, dass wir unter den Trümmern Tote finden?«, fragte Nenè.
    Er hatte Angst, auf eine Leiche zu stoßen.
    »Das glaube ich nicht. Wir haben schon vor zwei Tagen alles nach menschlichen Überresten abgesucht. Aber wer weiß …«
    »Und sagen Sie … Falls doch … Was soll ich dann tun?«
    »Dann rufst du einen von uns. Du kriegst das schon hin.«
    Nachdem er bereits einige Stunden die Trümmer zusammengetragen hatte, stürzte mit einem Mal eine der wenigen übriggebliebenen Mauern ein. Eine dichte Staubwolke wirbelte auf. Nenè hustete, er bekam kaum noch Luft, und seine Augen tränten. Er bemerkte, dass die Mauer beim Einsturz eine Art Bogen freigelegt hatte, unter dem eine wunderschöne Statue aus weißem Marmor stand. Es war die Skulptur einer jungen Frau, völlig nackt, mit erhobenem Kopf, die Haare zu einem Knoten gebunden, die Brüste von vollkommener Form. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, ihre Hände zum Gebet gefaltet. Wen stellte sie dar? Dass man in einem Bordell die Statue einer nackten Frau aufstellte, leuchtete Nenè ein, was er nicht verstand, war der Umstand, dass die Statue eine Haltung einnahm, die besser in eine Kirche gepasst hätte. Er berührte sie. Und da bemerkte er, dass sie nicht aus Marmor war, sondern aus Fleisch und Blut. Die Totenstarre hatte längst eingesetzt, und so hatte die Leiche wie eine Statue ausgesehen. Es waren keine Verletzungen erkennbar. Der Staub bedeckte ihren ganzen Körper, und wahrscheinlich war sie daran qualvoll erstickt.
    Nenè warf die Schaufel weg. Er krümmte sich vor Entsetzen und erbrach sich.
     
    Kaum dass er abends in seinem Bett lag, schlief er erschöpft ein. Auch die Bomben, die ganz in der Nähe fielen, konnten ihn nicht wecken. Er schlief wie ein Toter. Am dritten Vormittag bekam er ein paar Stunden Ausgang. Wie benommen ging er durch die menschenleeren Straßen und merkte nicht, wie ein Auto mit großer Geschwindigkeit auf ihn zukam. Der Fahrer konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, doch hatte er Nenè gestreift, sodass er stürzte.
    »Haben Sie sich wehgetan?«, fragte der Fahrer, der ausgestiegen war und auf Nenè zueilte.
    »Nein«, sagte Nenè.
    Der Fahrer reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen.
    Nenè erstarrte. Denn er hielt die Hand eines Toten.
    Es war Baron Giannetto Nicotra
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