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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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wird mir schlecht.«
     
    Inzwischen war es nicht mehr möglich in der Stadt zu wohnen. Ebenso hätte man im Schützengraben übernachten können. Es gab weder Licht noch Wasser. Ciccios Familie war nach Cammarata geflohen, doch Ciccio erhielt die Erlaubnis, wenigstens so lange in Vigàta zu bleiben, bis Nenè die Stadt verlassen musste. Denn inzwischen hatte Nenè die rosa Karte erhalten, die junge Männer vorzeitig zum Militärdienst einberief. Er war der Marine zugeteilt worden und würde sich am ersten Juli in Ràghiti an der Ostküste der Insel einfinden. Der letzte Montag, an dem Ciccio, Nenè und Jacolino zum Essen in die Pension gingen, war der sechsundzwanzigste Juni. Am späten Nachmittag, als es schon dämmerte, wollten die Jungen frischen Fisch auf dem Schwarzmarkt kaufen. Zwei Segler fuhren noch zum Fischen hinaus und riskierten dabei ihr Leben. Als Ciccio, Nenè und Jacolino am Hafen auf die Boote warteten, begegneten sie Lulla und Giugiù. Sie wunderten sich: Sie hatten die beiden noch nie in der Öffentlichkeit zusammen gesehen.
    Giugiù war gut gekleidet, er hatte sich gekämmt und rasiert. In der Hand trug er einen strohgeflochtenen Einkaufskorb. Auch Lulla sah elegant aus. Sie hatte so viel Parfum aufgetragen, dass ihr gleichsam eine Duftwolke hinterherschwebte. Die beiden hielten sich an der Hand, es sah aus, als hätten sie sich für ihre Hochzeit gekleidet.
    »Wohin geht ihr?«
    »Wir sind es leid, immer nur in der Pension zu sein. Wir machen eine kleine Fahrt mit dem Boot, das Giugiù gemietet hat.«
    Ciccio sah Giugiù erstaunt an.
    »Ja, bist du denn völlig verrückt geworden? Weißt du nicht, dass es da draußen nur so wimmelt von amerikanischen und englischen Schiffen? Die schießen euch doch sofort ab!«
    »Aber woher!«, sagte Giugiù. »Ich halte mich dicht am Ufer. Da besteht keine Gefahr. Wenn sie Lulla suchen, sagt, dass ich sie morgen Nachmittag wieder in die Pension zurückbringe. Schließlich gehört sie noch bis morgen mir.«
    »Wollt ihr denn die ganze Nacht draußen bleiben?«, fragte Nenè.
    »Sicher. Und auch morgen Vormittag noch. Ich habe genug zu essen mitgebracht«, antwortete Giugiù und zeigte auf den Korb, den er in der Hand hielt.
    »Ihr seid verrückt geworden«, sagte Nenè kopfschüttelnd.
    Sie umarmten sich zum Abschied. Lulla und Giugiù gingen zu dem kleinen Boot, das noch vertäut im Hafen lag. Sie stiegen hinein, hoben den Arm noch einmal zum Gruß, und als Lulla sich setzte, ließ Giugiù das Ruder ins Wasser. Da legten auch schon die beiden Fischer in ihren Segelbooten an.
    Beim Abendessen ging es alles andere als heiter zu. Tania, eines der Mädchen, hatte erfahren, dass ihr Bruder im Krieg gefallen war. Sie bat Signora Flora, auf Nenès Schoß sitzen zu dürfen, der ihr wie einem Kind sanft kleine Stücke Käse in den Mund schob. Immer wieder brach sie in Tränen aus und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Irgendwann fragte sie:
    »Hat Lulla dich umarmt?«
    »Ja, vorhin.«
    »Du hast ihr Parfum noch an dir.«
    Unter Tränen verabschiedeten Ciccio und Nenè sich schließlich von den Mädchen. Draußen vor der Pension umarmten die beiden sich noch einmal fest, ohne ein Wort zu sagen. So standen sie eine Weile, dann ließen sie die Arme sinken, und ihre Wege trennten sich.
     
    Nenè fuhr nach Montelusa, um die letzte Nacht mit Giovanna zu verbringen. Am nächsten Morgen kehrte er nach Vigàta zurück und verabschiedete sich von seinem Vater, der wegen seiner militärischen Verpflichtungen im Hafen blieb. Dann fuhr Nenè in das kleine Dorf, wohin seine Mutter und andere Verwandte geflohen waren. Am dreißigsten Juni um sieben Uhr morgens nahm er den Zug nach Ràghiti. Er dachte, die Fahrt würde nur drei Stunden dauern, aber er kam erst am nächsten Morgen an. Die Bomben hatten die Eisenbahnschienen beschädigt, und so mussten sie auf freiem Feld warten, bis der Zug weiterfahren konnte. Nach der Ankunft meldete er sich gleich in der Marinekommandantur. Er zeigte seine Karte und wurde zu einem Maresciallo geschickt, der seinen Namen in ein Register eintrug.
    »Und wo bekomme ich meine Uniform?«
    Der Maresciallo lachte laut auf.
    »Uniform? Was für eine Uniform? Wir haben keine Uniformen mehr. Nimm das hier, das ist deine Uniform!«
    Er reichte Nenè eine Armbinde, auf die die Buchstaben CREM gestickt waren.
    »Was bedeutet das?«
    »Das bedeutet Corpo Reale Equipaggio Marittimi, Königliches Corps der Maritim-Mannschaft.«
    »Und wie mache ich die Binde
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