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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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vollständig aus. Nenè und die Soldaten hatten die Flugzeuge am Himmel gesehen und waren über die Felder davongelaufen, um sich in Sicherheit zu bringen.
    Bei Sonnenaufgang verließen Nenè die Kräfte, er konnte nicht mehr weitergehen. Da entdeckte er eine Hütte am Wegesrand.
    »Könnte ich wohl ein bisschen Wasser haben?«, fragte er den Bauern, der vor der Hütte auf einer Bank saß.
    Wortlos hielt der Bauer ihm einen Krug mit frischem Wasser hin.
    »Desertiert?«
    »Ja. Woher wissen Sie das?«
    »Weil von deiner Sorte schon mindestens zehn andere hier vorbeigekommen sind. Hast du Hunger?«
    »Ja.«
    »Ich kann dir nur ein paar geröstete Bohnen anbieten.«
    Italienische Militärfahrzeuge fuhren an der Hütte vorbei ins Landesinnere; sie zogen sich von der Küste zurück, wo die Amerikaner gelandet waren. Ein Lastwagen kam auf die Hütte zu und blieb unvermittelt stehen. Die Soldaten stiegen herunter, schoben den Wagen von der Straße in einen Graben und kletterten hastig auf einen anderen vollgepackten Lastwagen, der neben ihnen gefahren war.
    War das die Niederlage? Fliehen ohne Plan, völliges Durcheinander? Wer schneller rennt, kommt eher an? Und wo sollte dieses Wettrennen hinführen? Zur Meerenge, diesem Flaschenhals, wo die amerikanischen Flugzeuge alle Zeit der Welt zum Töten hatten?
    Ein weiterer Lastwagen fuhr vorbei. Nenè sah die Matrosen in Uniform und stellte sich mitten auf die Straße, damit der Fahrer anhielt. Der Unterführer sah freundlich aus.
    »Woher kommt ihr?«
    »Aus Vigàta.«
    »Los, fahr weiter«, riefen die Matrosen, die auf der Ladefläche saßen, dem Fahrer zu.
    »Warum verlasst ihr die Stadt?«
    »Vigàta ist völlig zerstört worden, alle Schiffe sind gesunken oder in See gestochen, die Flugabwehr existiert praktisch nicht mehr. In spätestens drei Tagen marschieren die Amerikaner in die Stadt ein. Wenn du willst, kannst du mit uns kommen, wir fahren nach Messina …«
    »Danke, nein.«
    Was war aus seinem Vater geworden? Plötzlich spürte Nenè wieder Kraft in sich, und er machte sich von Neuem auf den Weg. Irgendwann wurde er von einer deutschen Beiwagenmaschine überholt. Der Fahrer, ein Soldat, hielt sofort an, als er Nenè sah, und bedeutete ihm einzusteigen. Sobald die Maschine anfuhr, war Nenè in einen tiefen Schlaf gesunken. Er träumte, dass er in einen Brunnen gefallen war und dass jemand ihn mit Steinen bewarf, sodass er noch tiefer sank. Als er aufwachte, war alles still. Nicht einmal die Vögel sangen. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Das Motorrad stand am Straßenrand, der deutsche Soldat schlief.
    Schlief er tatsächlich? Wo war die andere Hälfte seines Schädels? Nenè sprang auf. Er hatte so fest geschlafen, dass er nicht einmal gehört hatte, wie sie unter Beschuss genommen worden waren.
    Die Nacht verbrachte er im Halbschlaf unter einem Johannisbrotbaum. Am nächsten Morgen erreichte er mit blutigen Füßen das Dorf, in dem seine Mutter untergebracht war. Als sie ihn sah, fing sie an zu weinen.
    »Hast du Nachrichten von Papà?«, fragte sie.
    »Nein.«
    Nur ein paar Stunden später trafen die Amerikaner im Dorf ein und brachten an den Hauswänden folgende Mitteilung an:
     
    Alliierte Militärregierung des besetzten Gebiets Ich, Harold R. L. G. Alexander, General, Kommandierender General der Alliierten Streitkräfte und Militärgouverneur des besetzten Gebiets, erkläre hiermit dieses Dorf als befreit …
     
    Ist das nicht ein Widerspruch?, fragte sich Nenè. Wenn dieses Dorf befreit wurde, wieso ist es dann besetztes Gebiet?
    Zumindest würde er auf dem Weg nach Vigàta nicht mit Angriffen rechnen müssen. Er fand ein Fahrrad und brach am nächsten Morgen auf. Mehr als acht Stunden brauchte er bis Vigàta, weil ihn immer wieder amerikanische Lastwagen, Panzer und Geländewagen von der Straße drängten. Einmal geriet er auf ein versengtes Feld, auf dem gefällte Bäume lagerten. Dazwischen sah er vier ausgebrannte italienische Panzer, die Luken ohne Deckel. Daneben lagen zwei Tote, die in der Sonne schmorten. Ein anderes Mal sah er einen Lastwagen am Straßenrand. Ein paar Schritte entfernt stand eine Gruppe amerikanischer Soldaten, die miteinander scherzten und sich gegenseitig auf die Schulter klopften. Nenè trat näher.
    Im Schatten eines Olivenbaums lag ein nacktes Mädchen. Neben ihr saß ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem Hut auf dem Kopf. Er hatte es sich auf den Kleidern des Mädchens bequem gemacht, in der Hand
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