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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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Erstes Kapitel
Gradus ad Parnassum
    Recht lang ist der Weg, welcher zum Parnasse hinanführt, und er bedarf täglichen Übens …
     
    MUZIO CLEMENTI, Gradus ad Parnassum
     
    Kurz vor seinem zwölften Geburtstag verstand Nenè endlich, was zwischen den Männern und den Frauen in der Pension Eva vor sich ging.
    Seit er die Grundschule beendet hatte, erlaubte seine Mutter ihm, allein zum Hafen zu gehen, wo sein Vater arbeitete; und von da an war seine Neugier geweckt.
    Er musste an der dreistöckigen kleinen Villa vorbeigehen, die gleich hinter der Ostmole lag. Die Fassade wirkte immer wie frisch gestrichen, und die grünen, stets verschlossenen Fensterläden glänzten, als wären sie eben erst bemalt worden. Eine hübsche Villa, mit Blumen auf dem einzigen Balkon im ersten Stockwerk, dessen hohes Fenster ebenfalls niemals geöffnet wurde.
    Oft stellte Nenè sich vor, dass in diesem Haus gute Feen wohnten, die diejenigen retteten, die sich schuldig gemacht hatten und verzweifelt nach ihnen riefen:
    »Ihr Feen, ihr lieben Feen, so helft mir doch!«, und dann kamen sie, schwangen ihren Zauberstab, und der Wolf, der schwarze Mann oder der Einbrecher war verschwunden. Die Haustür blieb immer halb offen, und auf einem goldenen Messingschild daneben stand:
     
    Pension Eva
     
    Nenè wusste, was eine »Pension« war, er hatte seinen Cousin gefragt, der in Palermo zur Universität ging: Eine Pension war ein bisschen besser als ein Gasthof und ein bisschen schlechter als ein Hotel.
    In Vigàta gab es ein Hotel und drei Gasthöfe, in denen Seeleute auf der Durchreise, Handelsreisende, Reedereivertreter, Eisenbahner und Lastwagenfahrer Station machten.
    Warum aber war in der Pension überhaupt nichts los? Nie hatte er, wenn er am Tag dort vorüberging, auch nur eine Menschenseele gesehen.
    Einmal, kurz nach seinem achten Geburtstag, war er so neugierig gewesen, dass er sich an die Haustür wagte. Sie war ein ganz kleines bisschen weiter geöffnet als sonst. Vorsichtig blickte er sich um und beugte sich, als niemand auf der Straße zu sehen war, ganz langsam vor, sodass er gerade den Kopf hineinstecken konnte. Aber sein Herz pochte laut, und die Sonne blendete ihn, und so sah er überhaupt nichts. Er hörte nur zwei Frauen in einem Zimmer lachen und laut reden, verstand aber nicht, was sie sagten. Er wagte sich noch einen kleinen Schritt vor, reckte den Kopf, und der Duft von Seife und Parfum drang ihm in die Nase – es roch wie bei einem Barbier.
    Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Tür noch ein kleines Stück weiter aufzumachen.
    Gerade wollte er hineingehen, als ihn jemand am Kragen packte. Der Mann trug eine Seemannsuniform, Nenè kannte ihn nicht. Der Uniformierte sah ihn wütend und zugleich vergnügt an. Er sprach italienisch.
    »Ganz schön frühreif, was? Meinst du nicht, du bist noch zu jung für diese Wonnen des Lebens, Bürschchen? Verschwinde auf der Stelle!«
    Nenè verstand zwar nicht, was der Mann da gesagt hatte, schämte sich aber mit einem Mal sehr und rannte schnell weg.
    Als er in die vierte Klasse ging, erzählten ihm seine Schulkameraden, die zum größten Teil Taugenichtse. Söhne von Fuhrleuten, Hafenarbeitern und Seeleuten waren, alles über die Pension. Sie redeten alle durcheinander, legten ihm die Einzelheiten und Gepflogenheiten der Villa dar, so, als hätten sie ihr ganzes Leben dort zugebracht.
    Und er lächelte zustimmend, als hätte er alles verstanden. In Wirklichkeit aber verstand er gar nichts, er war eher noch verwirrter.
    So kam es, dass er sich eines Tages, als er mit seinem Vater an der Pension vorbeiging, ein Herz fasste und sagte:
    »Papà, stimmt es, dass man sich in diesem Haus nackte Frauen mieten kann?«
    So viel immerhin hatte er den Ausführungen seiner Klassenkameraden entnehmen können – er hatte auch verstanden, dass man die Pension Eva »Freudenhaus« oder »Puff« nannte und die Frauen, die dort wohnten, »Nutten«. Aber »Puff« und »Nutten« waren schmutzige Wörter, die ein anständiger Junge nicht benutzen durfte.
    »Ja«, antwortete sein Vater mit unbewegter Miene.
    »Mietet man die Frauen für ein Jahr?«
    »Nein, für eine Viertelstunde, eine halbe Stunde …«
    »Und was macht man dann mit ihnen?«
    »Man kann sie ansehen«, sagte sein Vater. Das genügte ihm. Eine Zeitlang gab er sich mit dieser Erklärung zufrieden, denn nur der liebe Gott allein wusste, wie gerne er den Rock seiner zwei Jahre älteren Cousine Angela hochheben würde, um
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