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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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verehrter Herr Minister: Sie haben möglicherweise den Antimago mitten in Ihrer eigenen Behörde sitzen. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber ich vermute es. Doch wenn meine Annahme zutrifft, dann trifft auch zu, dass die Einbrüche des weltweiten Geldverkehrs, die Sie jetzt alarmieren, nur der Anfang einer – altmodisch gesprochen – Verschwörung sind, hinter der kaum anderes zu stehen scheint als die Verwirrung von Ja und Nein und an deren Ende das finanzielle Nichts der Welt stehen wird. Dennoch ist dies nicht die ganze Wahrheit. Ich habe Ihnen in meinem ersten Brief mitgeteilt, wie unsicher mein Leben in Bezug auf die Wirklichkeit geworden ist. Seit jenem Augenblick in Falling, in dem ich – als Person? oder als Dokument? – dem Antimago tatsächlich (aber was heißt tatsächlich?) begegnet bin, als wir uns beide im Saal der Puppen als Ankläger und Verteidiger gegenübertraten, als ich mein Ich mit seinem austauschte oder verschmolz; seit jenem späteren Erlebnis, (aber war es eines, war es nicht Ausgeburt meiner Phantasie, nein, eines Programms, nein, einer geistigen Verwirrung?) als Boris Reeper in Kardinalsgestalt neben mir auf dem Dachboden stand und ich mich in Cyberspace-Montur in dem blindfleckigen Spiegel erblickte; als ich den Antimago (nein, das nun von mir besiedelte Dokument EGO , in dem er zuvor gelebt, nein, als Programm existiert hatte) löschte und nicht wusste, ob ich damit nicht mich selbst (nein, nicht mich selbst, mein Antimago-HeinrichAustausch-Programm-Ich ) eliminieren würde – seit diesem Augenblick bin ich ein Mensch ohne Gewissheit. Lieber würde ich schreiben: ein Träumer. Mir bleibt eine Frage unbeantwortet, die so einfach zu sein scheint wie die nach der Uhrzeit und zugleich schwieriger als das Rätsel der Sphinx: Als der virtuelle Antimago mir den (realen?) Spiegel entgegenhielt, sah ich mich in Cyberspace-Helm und -Haut. Sah mich also in jener Rüstung, die mir den Eintritt in die künstliche Welt Reepers möglich gemacht und die ich angelegt hatte, um ihn in der Kathedrale von Santiago de Compostela aufzuspüren. Ich sah also den wirklichen Heinrich …
    Aber eben dies ist unmöglich . Es kann nicht wahr sein. Denn Helm und Cyber-Visier sind ja nicht durchsichtig. Man kann ja durch sie die umgebende Wirklichkeit gar nicht sehen. Man sieht nur, was die Bildschirme im Inneren des Helm-Visiers seinem Träger vorspielen. Man sieht künstliche Bilder , solange man diesen Helm trägt … Wen also sah ich im Spiegel? Genauer gefragt: Was sah ich im Spiegel. Und wo war der Spiegel? Wer , lieber Minister Cognac, hat folglich damals den Antimago gelöscht? Und wo ? Spricht nicht alles dafür, dass nicht ich, sondern ein virtueller Heinrich seinen eifrigen Kampf gegen Reeper gewann? Dass dieser Heinrich nicht an dem wirklichen Rechner des Antimago die komplizierten Bildfälschungen vornahm, die endlich die Statik der Pyramide zerstörten und die Löschung Reepers erlaubten? Heißt dies dann nicht, dass in dem Computer ein weiterer, ein virtueller Computer existierte? Und dass ich als virtueller Heinrich an diesem gearbeitet hatte? Und folgt daraus nicht wiederum …???
    Wer hilft uns, wenn wir uns erst einmal derart verirrt haben? Gott lässt uns im Labyrinth unseres Fortschritts allein. Die Philosophen machen es sich einfach, von Platon bis zu Nietzsche ist die Welt unserer Erfahrung Fiktion. Aber ich lebe doch. Ich sehe, ich fühle, ich habe Hunger und Durst, ich werde sterben. Wer? Wer wird sterben, wenn ich sterbe? Wer nimmt mir diesen Zweifel von der Seele? Nicht dass mich die ungelöste Frage nachhaltig an meiner Existenz hindern würde. Ich bin glücklich hier in den ligurischen Bergen. Ich liebe Charisia. Und wenn ich die nachgiebige Haut ihres Körpers spüre, überschwemmt Lebens-glück mein Gehirn, ich atme ruhig, und aus meiner Erinnerung klingt jener Satz auf, den Hans Stieftaal bei unserem ersten Gang über die Insel, als er den Fremdenführer spielte, gesagt hat: »Sie müssen wissen, dass es für den Großen Antimago nur eine Realität gab, der er ganz vertraut hat: das war der schöne Körper von Signora Vonghi.« Je länger ich über das Rätsel meiner Existenz nachdenke, um so mehr neige ich zu der Antwort, dass ich mich in der Pyramide des Antimago verlaufen habe und noch immer durch die künstlichen Welten, aus denen sie erbaut war (oder noch ist) streife, dass ich eine variable Information bin, genannt Heinrich Günz. Jemand, der unter diesem Namen das Spiel mit
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