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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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auf dem Sitz. Mir wurde schlecht. »Er fälscht«, hämmerte es in meinem Kopf, »er fälscht, Liliane lebt, Liliane …« »Du wirst sie leider nie wiedersehen, deine Liliane«, sagte Reeper leise. »Ich lüge nicht, Heinrich. Es ist die Wahrheit, die traurige Wahrheit. Möchtest du die Satellitenaufnahme von der Absturzstelle sehen? Ich kann NetNews bitten, sie uns vorzuspielen. Ein scheußlicher Anblick zwar, aber gewissermaßen überzeugend … Ich an deiner Stelle würde mir das nicht antun. Warte nicht auf Liliane. Du wirst sie nie wieder treffen, in dieser Welt, die du vermutlich ›Draußen‹ nennst …«
    Das Wort nie schüttelte meinen Körper. Ich schwitzte und fror. Meine Kiefer schlugen laut aufeinander, ich spürte, dass ich zerfiel. »Aber da ich dich liebe, Heinrich, will ich dich trösten. Liliane ist ja hier. Sie ist ja bei dir. Sieh sie dir an. Du musst nur dein Dokument öffnen! Nun komm schon! Ich helfe dir …« Er wählte das Dokument HEINRICH an, öffnete es, sein eigenes Gesicht auf dem Monitor zog sich auf die linke Hälfte des Bildschirms zurück; in der rechten sah ich Liliane, und ich sah mich, sah unsere beiden nackten Körper auf Lilianes Bett, in ihrer kleinen Wohnung in Paris nahe der Station Châtelet, ich sah, wie wir uns ineinander verschlangen und uns liebten – mein Gehirn zog sich zusammen, blähte sich auf, zog sich wieder zusammen, dann fühlte ich nichts mehr. Der Schmerz war verschwunden. »Nichts kann dir Liliane jetzt mehr nehmen, Heinrich. Ihr werdet euch lieben in alle Ewigkeit …« Liliane erhob sich vom Bett, winkte mir zu und begann zu tanzen, schöner als je war ihr nackter Körper, vertrauter ihr Lächeln, und ich wollte nicht, dass Reeper sie so sah … Vielleicht war sein einziger Fehler, dass er nur meine Trauer, nur meinen Schmerz, nicht aber meine Eifersucht kalkuliert hatte. Ich hatte nicht mehr die Kraft, sein Dokument mit dem meinen zu vermischen. Ich überließ beide dem FANTANIMA -Programm, hob die Autonomiesperre auf, und die dem Programm eigene Phantasie tauschte die Bildwelten beider Dokumente unbarmherzig, nach Maßgabe größter Verrücktheit, aus. Als ich sah, was vorging, heulte ich ohne Hemmung los. Die Leiber mischten sich in absurdesten Teilverbindungen, Liliane trug in meinem Dokument, HEINRICH , Reepers Gesicht als rechten Fuß, mein Penis stak ihm in dem seinen, EGO , im Ohr, er lieh in HEINRICH dem Bett seinen Kopf als Eckpfosten, ich blickte in EGO aus der Gurgel seines Halses, und als in den Angebotsfeldern der eingespiegelten Experimentleiste beide Dokumente plötzlich logisch sortiert aufschienen – ich links im Dokument EGO platziert, nackt in der Hocke, im rechten Feld HEINRICH aber Reeper, Liliane von hinten umfangend – wählte ich dieses Angebot aus, bestätigte die Anfrage AUSWAHL , der neben mir auf den Bildschirm starrende Kardinal Reeper brüllte vor Wut, die Frage ÄNDERUNGEN SPEICHERN? erschien, ich gab ENTER ein, immer noch heulend wie ein angeketteter Hund, und sah, wie der Antimago mit Liliane eingesperrt war im Dokument HEINRICH , das ungeschützt vor mir lag
    – und ich fand auf dem Keyboard den Befehl LÖSCHEN und zielte und schlug auf die Taste.
Der Rechner gab folgsam die letzte Warnung ein:
    DAS DOKUMENT HEINRICH HAT 47 GIGABYTE. WOLLEN SIE ES WIRKLICH LÖSCHEN? Ich drückte OKAY . Das Dokument HEINRICH verschwand, und EGO weitete sich auf das ganze Monitorfenster aus. Der leuchtende Ring und die roten Handschuhe des Kardinals verschwanden als letztes. Er hatte sie mir gerade um den Hals gelegt. Ihr Druck ließ nach, sie zogen sich zurück und verblichen vor meinen Augen. Reepers Gesicht stand noch als wütender Reflex in der Luft, zerfiel in ein buntes Geflirr von kleinen Quadraten, die langsam verblassten. Auf dem Monitor hockte ich nackt im EGO , allein auf der blauen Fläche, betrachtete mich wie einen Fremden und erteilte endlich auch für ihn den Befehl zur Löschung.
    DAS DOKUMENT EGO HAT 23 GIGABYTE. WOLLEN SIE ES WIRKLICH LÖSCHEN?
    Es war ein Selbstmord. Ich habe seither lange darüber nachgedacht, Minister Cognac. Was hätte ich tun sollen? Als Inhalt eines Dokumentes, das eigentlich und ursprünglich den Antimago verkörpert hatte? Konnte ich sicher sein, dass es im Dokument EGO , das nun mich vorzeigte, nicht Reste oder Strukturen Reepers gab, die er in meiner Gestalt verbarg? Also löschte ich mich. Ich löschte doppelt und überschrieb das Dokument mit Nullen. Und fand mich in Reepers
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