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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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hatte die Zeit nicht. Ich musste mich jetzt entscheiden: Eine kluge, vielleicht richtige, vielleicht sogar erlösende Idee, die La Terreur brauchte – war die noch klug, richtig und erlösend?
    Aus dem drückenden Punkt zwischen meinen Schulterblättern kroch der Schmerz in meinen Nacken hoch und stieß nadelscharf in den Mittelpunkt meines Kopfes. Ich gab den Befehl ein, EGO zu öffnen. Doch statt des erwarteten Gesichtes sah ich den vorderen Teil des Speichers abgebildet, wo unter Staub und Spinngewebe die Büsten des Antimago lagen. Aus den Lautsprechern drang ein leises Schluchzen, als habe sich ein Kind ins Dunkel verkrochen und weine in sich hinein. Ich vergrößerte einige Stellen, konnte aber nicht entdecken, woher die Stimme kam, stand auf und lief in den Teil des Dachbodens, den mir der Monitor gezeigt hatte. Meine Augen gewöhnten sich langsam, und ich konnte die Konturen des Gerümpels und der eingesponnenen Gesichter Reepers erkennen. Das Schluchzen schien zwischen ihnen hervorzukommen. Ein Lichtkeil fiel aus der halb offen stehenden Tür zum Rechnerraum auf zwei der Büsten, und zwischen ihnen sah ich nun das kleine, purpurrote Wesen hocken. Doch es war kein Kind. Es war der auf die Größe eines Zweijährigen geschrumpfte alte Antimago in seiner Kardinalsgestalt, der dort im Staub kauerte und heulend zu mir aufblickte. Er hockte da wie ein hexenhafter Zwerg, hilflos eingeklemmt zwischen seinen größeren Steinbildern. Ich beugte mich zu ihm hinunter, streckte ihm meine Hand entgegen. Er sprang auf und biss hinein. Im selben Augenblick hörte ich sein lautes Lachen aus dem Rechenzentrum, lief zur Tür, stieß sie auf und sah Reeper in voller Größe, die Hände auf dem Rücken und mit Lachtränen in den Augen neben seinem Computer stehen.
    »Da wären wir also wieder, kleine Ratte Zukunft«, rief er. »Du willst mich immer noch vernichten? Mich, der dich zu seinem Sohn erhoben hat? Nur zu! Undankbarer! Versuch es – wenn du weißt, wer du bist!« Er nahm seine Hände hinterm Rücken hervor und hielt mir einen Spiegel entgegen, fleckig, matt, glänzend genug aber, dass ich mich erkennen konnte: Ich trug die Cyberspace-Haut, den Cyberspace-Helm … Der Schmerz in meinem Kopf wurde unerträglich. Ich setzte mich zitternd in den Stuhl, wandte meinen Blick vom Spiegel ab und starrte auf den Monitor, auf dem das Gesicht des Antimago mich freundlich anlächelte, gütig, tröstend, ja seltsam ermutigend … »Also, was ist nun«, fragte Reeper, warf den Spiegel auf den Boden und zertrat ihn. »Ich würde gern, wenn ich schon gelöscht werden soll, wenigstens zusehen, wie du es anstellst!« Ich konnte nicht mehr entscheiden, welche Folgen meine Entschlüsse haben würden. Aber ich wusste zugleich, dass es keine andere Möglichkeit für mich gab, als auf dem begonnenen Weg weiterzugehen. Also öffnete ich das FANTA-NIMA -Programm erneut. »Ah!« rief Reeper voller Interesse. »Du wirst neue Abhängigkeiten schaffen, weißt du das? Du hast herausgefunden, dass der Schutz meines EGO abhing von der Pyramide. Okay. Du hast sie zerstört. Und du hast herausgefunden, dass das ETERNITY -Programm abhängt von meinem EGO . Nun willst du mein EGO zerstören. Logisch. Würde ich an deiner Stelle auch. Aber was wird mit dir ? Was wird mit HEINRICH ? Ja! Du glaubst, du wirst einfach die Insel wieder verlassen, du wirst Liliane wieder treffen und ihr werdet ein easy going happy end in Kalifornien verleben. Sonne plus Geld gleich Glück. Aber das Geld, Heinrich, ist nichts als die Metaphysik der Aufklärung; und das Glück ist eine Chimäre. – Ich muss dich enttäuschen, kleiner Verräter. Liliane wartet nicht auf dich. Liliane ist leider nicht angekommen. Liliane wird nie ankommen. Es gab da eine fast unbedeutende, nichtsdestoweniger folgenreiche Datenverwirrung im Bordcomputer der Maschine, die Satellitennavigation war durcheinander geraten, keiner weiß, wer mit falschen Daten dazwischen gefunkt hat, Flug Amair 434 ist über dem Atlantik ins gesperrte Manövergebiet der Luftwaffe geflogen, eine Snake II hat sie als Phantomziel erkannt und ihren Sprengkopf bedauerlicherweise auf eben diese Maschine mit, es ist herzzerreißend, 781 Menschen an Bord, ausgerichtet …« Messer wirbelten in meinen Schläfen, ich schrie. »Ach, du glaubst mir nicht? Ich hätte es dir lieber verschwiegen!« Er beugte sich über die Tastatur und wählte NetNews an, in deren Datext der Absturz von Flug Amair 434 gemeldet wurde. Ich krümmte mich
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