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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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durcheinander bringst. Er schützt sich durch das Leben der anderen. Wenn du deren Ordnung verschiebst, bist du Sieger. Er sitzt in einem Kristall, und glaub mir, bei Kristallen kenne ich mich aus.« Ich sah, dass der alte Mann weinte. Wir hielten uns an den Händen wie Kinder. »Und vergiss nicht, dass Liliane dann im Hotel auf dich wartet. In drei Stunden landet ihre Maschine. Morgen früh kann sie in Falling sein.« Er wandte sich dem Monitor zu, auf dem er Jatsu Tsin gegenüberstand. »Wusstest du, dass ich die Sonnenuhr ohne Schatten erfunden habe? Die Formel für die kristalline Struktur findest du zu Hause in meinem Rechner. Nehmt sie euch. Das Passwort lautet lichterloh , alles klein geschrieben. Adieu. Und wenn ihr mich findet, schafft mich heim. Ich hasse die europäische Erde.« Er streckte die Hand nach dem Keyboard aus, wartete, als müsse er sich selbst eine Frage beantworten. Dann lachte er und drückte die Taste. Das Bild lief weiter. Er näherte sich Jatsu Tsin. Der breitete die Arme aus, Kleine Heimat schimmerte im Restlicht. Jetzt standen die Greise voreinander. Die einstigen Kampfgefährten aus der Hochzeit des Antimagismus umarmten sich langsam, und Jatsu Tsin hob die Hände auf Dschejdschejs Schultern, legte die Schneide des Messers an den Nacken seines Freundes, den er als Verräter erkannt hatte. Mit der anderen Hand fasste er um den Messerrücken von Kleine Heimat und zog es mit einem harten Ruck zu sich her. Dschejdschej wehrte sich nicht. Die Schneide drang quer durch seinen Nacken. Sein Kopf fiel zurück. Zugleich stand Dschejdschej noch neben mir und sah seinem eigenen Tod zu. Ich griff nach seiner Hand, aber sie war schon nicht mehr vollständig sichtbar. Ich griff durch sie hindurch, Dschejdschej zerfiel in flirrende bunte Punkte, Gelb, Cyan, Rot, Blau, Weiß, Grün, Magenta und Schwarz. Er löste sich auf in der Luft, während Jatsu Tsin seinen Körper über den Weg schleifte und unter den Bootssteg warf, wo das schwarze Wasser ihn aufnahm. Dann kniete Tsin sich ans Ufer und wusch sein Messer. Ich schloss das Dokument, es schrumpfte in die Pyramide zurück. Die Stille im Dachboden war unerträglich. Nie zuvor war sie nur aufgefallen. Nur das sehr leise Surren der Festplatten und Ventilatoren in den Geräten war zu vernehmen. Der große Monitor knisterte. Ich hatte plötzlich den Wunsch zu fliehen, hielt mich fest an den Armlehnen des Stuhls. Alles in mir wehrte sich dagegen, dass Jens Jakob von Tonnda tatsächlich tot sein sollte, alles empörte sich, ich öffnete das Dokument wieder, ließ es zurücklaufen, griff auf die Werkzeuge des FANTANIMA -Programms zu, sorgfältig löschte ich das Messer Kleine Heimat aus Jatsu Tsins Händen, animierte beide Greise neu: Jetzt umarmten sie einander, der Tod war eliminiert – auf dem Bildschirm erschien eine Warnmeldung:
    ACHTUNG STATIKÄNDERUNG – ZULASSEN? LERNEN? ABBRECHEN? Ich klickte ZULASSEN an, sicherte und schloss das geänderte Dokument. Doch Dschejdschej kehrte nicht neben mich in den Speicher zurück. Erinnern Sie sich an Sir Dschejdschej? Sie haben ihn seinerzeit kennen gelernt, in Lilianes Kephalismus-Ausstellung bei Brend’amour im Kugelhaus von Paris-Bobigny, wir aßen gemeinsam im dortigen Äquatorrestaurant. Ich bitte Sie herzlich, bewahren Sie ihm ein gutes Angedenken! Er hat es verdient. Er gab mir den entscheidenden Hinweis. Was ich mit dem Dokument seiner Ermordung getan hatte, vollzog ich nun sukzessive an anderen Dokumenten der Pyramide. Ich änderte die Verläufe der Bilder, kehrte Geschichten um, kopierte den schwingenden Weihrauchofen von Santiago in den Himmel über der Karlsbrücke in Prag, ließ dafür die Moldau durch die St. Jakobus-Kathedrale rauschen, stellte die Bottiche der Gerber von Marakkesch auf den Markusplatz in Venedig, den Buddha aus Kamakura mitten in den isländischen Godafoss, der Nil stürzte in den Krater des Nakadake, dessen Schwefelwolken die Gischt des Atlantik vor Étrétat durchdrangen, ich beantwortete die Systemanfrage nach der Veränderung der Statik jedes Mal mit LERNEN , jagte die afrikanische Büffelherde mitten durch die Wildwasserboote auf dem Mowango, in deren einem Lucia Vonghi, Elisabeth und Boris Reeper den Tod gefunden hatten, hob schließlich – die Handbearbeitung wurde mir zu mühsam – die Sperre des FANTANIMA -Programms, die seine autonome Spielfähigkeit begrenzte, auf und ließ seinem aleatorischen Selbstlauf freie Bahn in sämtlichen Dokumenten der Pyramide. Es
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