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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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Schiff. Die Reichen waren immer zu Hause. Es war nicht ungefährlich, sich ihren Villen zu nähern, denn die Reichen waren bewaffnet, und sie waren nervös, was er verstehen konnte. Doch wenn es gelang, unbeschädigt zu ihnen vorzudringen, ließ sich gelegentlich ein gutes Geschäft machen. Einige waren dumm genug, sich übervorteilen zu lassen, manchen konnte man etwas stehlen. Er wusste, dass das falsch war. »Aber du bist nicht auf der Welt, um ein guter Mensch zu sein, du bist auf der Welt, um deine Familie zu ernähren« hatte seine Mutter ihm eingebläut – er war sieben Jahre alt gewesen und wollte nicht betteln gehen, wollte sich nicht das linke Bein nach hinten gewinkelt hochbinden lassen, er wollte den stinkenden Lammschädel nicht zwischen den Schulterblättern tragen, der unter dem Kaftan einen täuschend echten Buckel bildete, und er wollte nicht auf Krücken als Kindkrüppel in den Hafengassen von Genua Mitleid herausfordern, das sich ummünzen ließ. Immerhin gab es damals noch Geld in den Taschen der einfachen Leute. Er stahl es ihnen lieber, als es ihnen abzubetteln. Damals gab es noch Bäcker, er konnte Münzen sparen und, wenn er genug zusammen hatte, in einen der wunderbar nach Brot duftenden Läden gehen und ein kleines Stück fetttriefenden Honigkuchen kaufen. Er hatte schnell gelernt, einen Teil des Geldes vor seiner Mutter zu verbergen. Er wusste, dass es falsch war. Aber warum sollte der Betrug, der ihm zu Hause beigebracht worden war, nicht auch in ihrem neuen Zuhause Europa erlaubt sein? Am besten freilich war es, Händler zu werden – auch wenn er Honiggebäck seit seiner Händlerzeit nicht mehr gesehen, nicht einmal mehr von ferne gerochen hatte.
    Er hatte unwillkürlich die steil ansteigende, schmale Straße betreten, die zu den Villen hinaufführte. Sie war solide gebaut, mit festen Stützmauern und einem dicken Betonbelag, durch den sich Querrillen zogen und aus dem an einigen Stellen das eingegossene Stahlgitter hervorsah. Sein Schatten war kürzer geworden, und ihm war, als ob sich das Licht als zusätzliches Gewicht auf seine Ballen und Teppiche legte. Von seinen Brauen lief ihm der Schweiß über die Lider in die Augenwinkel und brannte. Der Beton war heiß und rau unter seinen Fußsohlen, aber es ging sich leichter auf ihm als auf der glühenden, klebrigen Teerstraße. Er hatte die Höhe der Villen erreicht und sah vor sich die Gabelung, an der sich ein Pfad von dem links und höher gelegenen Haus herab, ein zweiter von dem rechts und tiefer liegenden herauf und einer von dem direkt vor ihm sichtbaren Anwesen her vereinigten. Er wählte den kürzesten, der geradeaus an einer kleinen, mit Schiefer ausgelegten Terrasse endete, auf der eine Bank und ein Tisch aus ergrautem Pinienholz standen und hinter der sich das zweistöckige Gebäude erhob. Rechts davon bog ein verdorrter Baum sich in den Himmel. Die Schieferplatten glimmten unter der Sonne. Dort wollte er seine Last ablegen, sich auf die Bank setzen, durch die offen stehende Haustür hineinrufen, der Händler sei da mit Wäsche aus feinstem Ägyptisch-Makko, Teppichen aus Isfahan und China, T-Shirts aus Hollywood und echten Wollsocken aus Irland. Er wusste, dass es falsch war, derart dreist zu lügen, aber das gehörte zum Geschäft. Tausch oder Kauf, er war für jeden ehrlichen Handel zu haben! Er hatte den Pfad zur Terrasse noch nicht betreten, als zwei wütend kläffende Hunde aus der Tür stürzten, groß und schwarzweiß gefleckt, zwei Höllenhunde jagten die Treppe herunter und bis zum Terrassenrand, wo sie anhielten und ihn verbellten. Er blieb stehen. Sein Puls raste. Wenn sie ihn anfielen, musste er alles, was er besaß, von sich werfen und die Straße hinunterflüchten. Vielleicht. Vielleicht auch bissen sie ihm gleich den Nacken durch und fraßen sich in seine Brust bis an sein hart schlagendes Herz. Sie waren mager und gierig.
    Diese verdammten Reichen. Ließen ihre Hunde hungern, damit sie gefährlich blieben. Wahrscheinlich waren sie auf dunkle Haut abgerichtet. Aber sie kamen nicht näher, sie knurrten ihn vom Rand ihres Reviers her an, zogen die Lefzen hoch und entblößten die Fangzähne, sie tänzelten nervös auf ihren hohen Beinen, als warteten sie nur auf das Kommando, die Grenze überschreiten zu dürfen. Dass auch sie Angst haben könnten, kam ihm nicht in den Sinn. Er rührte sich nicht. Eine Wolke Fliegen summte um seinen Kopf, sie krochen ihm über die Lippen. Sein ganzer Körper schwitzte. Niemand
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