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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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uns in Spiele verwandeln, in denen wir gleichzeitig die Spieler sind. Und langsam wird unser Gebirge sich mit allen bevölkern, die nicht mehr wissen, ob es sie gibt. Es wird sehr lustig werden. Ich warte auf Sie.
    Ihr Heinrich (?) Günz (?)
    Je länger der Händler darüber nachdachte, warum er den Packen Papier vom Schreibtisch des Toten entwendet und eingesteckt hatte, für den ihm unten in der Stadt ein paar Verrückte in den hinteren Hafengassen, wo es Läden mit dreckigen, zerfledderten Büchern, Notenheften und Landkarten gab, allenfalls ein paar Gramm Speck geben würden; je länger er die abschüssige, heiße Teerstraße dem Meer zulief, um so leichter schienen ihm seine Wäscheballen und Teppiche zu werden, und er sah vor sich ein Schiff, das er über ein Fallreep bestieg, sah sich seine Teppiche dem Steward übergeben als Entgelt für die Überfahrt, er sah die Küste seiner Heimat heranschwimmen, er sah sein Dorf im Sand liegen, sich selbst in der Hütte des Schreibers sitzen, der ihm die Papiere Blatt für Blatt mit schmutzigem Zeigefinger vorbuchstabierte. Und mit einem Mal wusste er, dass er alles, was da verzeichnet stand, lernen würde zu lesen und es sich einprägen und irgendwann, an einem der warmen Abende, in denen noch die Düfte des Tags mit dem Staub vermischt in der Luft hingen wie ein Tuch, in das alle Erinnerungen eingewebt waren, sich in einer Mauernische am Markt hinsetzen würde, neben sich die Öllampe, die Papiere vor sich im Schoß, und dass er beginnen würde, zu lesen, laut und mit einer Stimme, wie sie ihm aus Kindertagen vertraut war – jener weichen und tiefen, einhüllenden und doch immer wie von fernher klingenden Stimme der alten Geschichtenerzähler. Und einige, die vorbeigehen wollten, würden stehen bleiben, manche sich setzen, im Halbkreis, Kinder und Männer, die Nacht würde über das Dorf fallen, und die Öllampe würde auf den Gesichtern den Widerschein ihres Lichts aufglimmen lassen. Er wusste, dass alle, die es erübrigen könnten, ihm Datteln und Nüsse, Tabak und heißen, süßen Minztee bringen, vielleicht einen Silberring in den Sand werfen, vielleicht ihm ein Nachtlager anbieten würden. Und er hörte sich erzählen von Menschen, die unter dem harten Licht des Nordens in weit zurückliegender Zeit wundersame Maschinen erfunden hatten, viel wundersamer noch als fliegende Holzpferde mit Kurbeln an ihren Flanken; von unermesslich reichen Menschen in glänzenden Palästen, die ein kalter Wind umflog, Menschen, die nie Hunger litten und die dennoch nicht glücklich waren, weil sie sich nach dem ewigen Leben sehnten, und die sich darum neben der Schöpfung des Einzigen weitere, ewige Gärten erschaffen hatten, in denen sie sich verirrten und die vor ihren Augen verdorrten. Von Doppelgängern und Dreifachgängern, von lebenden Toten, von Menschen, die Briefe schrieben und nie absandten, von Träumen, die nie endeten und aus denen weitere Träume wuchsen, und wer erwacht war, wusste nicht mehr, in welchem der Träume er sich vom Bett erhob und wie viele Türen er durchschreiten musste, um in die Welt zurückzukommen, aus der er in seine Träume aufgebrochen war; und wo keiner mehr wusste, ob er ein Nichts war oder ein Mensch … So hörte der Händler sich bis tief in die Nacht seines Dorfes warnen vor der Verwirrung der Welt, vor einer Welt, in der der Sand kein Sand war, der Himmel kein Himmel, das Gesicht des Freundes nicht sein Gesicht, in der eine Schlange keine Schlange war und ein Haus kein Haus; er hörte sich erzählen von einer Welt ganz aus Metall, die verfiel und sich bald langsam zurückverwandeln würde in den Stein der Engel, in den Sand der Skorpione und in das Meer, aus dem die Sterne aufstiegen wie eh und je und wie jetzt über seinem Dorf – während er noch unter der gleißenden Sonne und zwischen den Olivengärten mit ihren schwarzen Netzen im Gras immer rascher die Landstraße hinunterlief, leichtfüßig trotz all seiner Lasten, bald in Sprüngen ausgriff, bald in kleinen, getänzelten Schritten sich aufhielt, immer dem Hafen zu, dem Hafen, wo das Schiff liegen würde, das ihn nach Hause brachte … Und zum ersten Mal in seinem Leben, so weit er sich zurückerinnern konnte, fühlte er in seiner Brust etwas, das sonderbar gemischt zu sein schien aus Freiheit und Neugier und Lust und Stolz, etwas, das ihn so kräftig machte, dass er niemals mehr Angst haben würde, das ihn den Diebstahl vergessen ließ, das ihn die Last und die Hitze und den
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