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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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Dieser Roman vom Verschwinden des Geldes wurde vor fünfzehn Jahren geschrieben und veröffentlicht. Er liegt hier in einer vom Autor überarbeiteten, inhaltlich jedoch unveränderten Fassung vor. Als er 1994 erstmals erschien 1 , wurde er als utopische Literatur, als Science Fiction gelesen und rezensiert. Niemand, vor allem sein Autor nicht, hielt für möglich, dass das Geld tatsächlich in dem hier beschriebenen Maß eines Tages aus den Märkten verschwinden könnte. Nicht etwa geklaut oder verjubelt, nein: einfach gelöscht: »Futsch, rubato, perdu und disappeared«, wie es im Roman heißt. »Die Nacht der Händler« erzählt von der Verwechslung von Realität und Virtualität, von Welt und Scheinwelt, von der Illusion der Bilder und des Geldes; von einer terroristischen Sekte, den Antimagisten, die alles zerstören wollten, was die Welt abbilden kann, um die Wirklichkeit zu retten. Ihr Führer, der »Große Antimago«, lebte freilich das Gegenteil der eigenen Weltanschauung, wie fast alle Erlösungsprediger: Er war bildersüchtig und ein Computerfreak. Der zynische »Retter der Wirklichkeit« wird am Ende die fiktivste aller Fiktionen vernichten: das Geld … Der Roman selbst verbirgt die Realität so vielfältig hinter Scheinwelten, dass der Leser am Ende wohl kaum mehr entscheiden kann, was in dieser Geschichte tatsächlich geschieht und was nur Einbildung ist. Denn wenn unsere Welt sich in Schein verwandelt, wissen wir nicht mehr, wohin Hand und Fuß setzen. So, wie die Geldhändler mit ihren Scheingeschäften in der Nacht verschwinden. Nur die Träume sind noch sicher.
    Gert Heidenreich, Januar 2009
    Der Händler hatte kaum geschlafen in der Nacht. Überall in den Olivenhainen waren die schwarzen Netze über den Boden gespannt, in denen die Früchte gesammelt wurden. Die Terrassen in den Ölbaumgärten sahen aus, als trügen sie Trauer. Legte er sich unter einen Baum, prasselten ihm beim leichtesten Windstoß die Oliven ins Gesicht und schreckten ihn auf. Streckte er sich auf freien Wiesenflecken zwischen den Bäumen aus, hätte man ihn im Mondlicht sehen können, wie sollte er da zur Ruhe kommen … Er musste sich verbergen vor streunenden Dieben, wie er selbst einer gewesen war; vor allem vor solchen, die kein Risiko eingingen: die Gurgelschneider und Herzstecher. Am meisten aber fürchtete er die Kinderbanden, sie waren am schlimmsten, je jünger, umso unbarmherziger. Darum hatte er es vorgezogen, trotz der fallenden Früchte im Nachtschatten eines Baumes zu liegen, nachdem er eines der Olivennetze von den Pflöcken gerissen, seine in Plastikfolien gehüllten Ballen mit Unterwäsche und seine Teppiche darin eingeschlungen und weit von sich unter einen anderen Baum gelegt hatte. Gerade erst war die Sonne aufgegangen, und schon spürte er die Hitze. Dennoch fror er in seinem grauen Armeeunterhemd. Er wickelte seine Waren aus dem Netz, kaute ein paar Oliven ab, lutschte die Kerne, spuckte sie aus, nahm seine Sachen auf und lief den steinigen Bergpfad hinunter, der sich bald weitete und in eine löchrige Teerstraße überging. Sie führte ihn mitten ins Dorf.
    Die Kirche war geschlossen, der Wäschebrunnen mit dem Löwenkopfspeier neben ihr versiegt. In den Fassaden der unterschiedlich hohen und breiten Natursteinhäuser gegenüber der Kirche waren einige Türen mit Brettern vernagelt. Über einer las er den Rest einer abblätternden Schrift: »… a-l-i-s-e«. Kein Mensch war auf der Straße. Nicht einmal eine Katze. Er wusste nicht, wie das Dorf hieß, und er lief weiter und schleppte seine Waren an den letzten Häusern vorbei wieder ins Licht der Sonne, den Blick schon auf das nächste Bergdorf gerichtet, dessen Namen er auch nicht kannte und das vermutlich ebenso ausgestorben dalag. Oberhalb des Dorfes waren einige Häuser am Hang verteilt, eingebettet in kleine Buchten oder ausgesetzt auf Terrassen. Er wusste, wenn überhaupt jemand etwas besaß, was er tauschen konnte, wenn jemand noch richtiges Geld hatte, das auch in den Hafenorten am Meer noch etwas wert war, dann dort oben: Da lebten die Reichen, dort gab es statt Brettern Gitter vor den Fenstern, und hinter den Fenstern gab es Öl, Mehl, vielleicht sogar Wein, es gab silbernes Essbesteck, das zum Essen nicht aufgelegt wurde, und Schmuck, der manchmal sogar noch nicht in Stückchen zerschnitten war, nicht dieses Kleingold, mit dem einige jetzt bezahlten, sondern richtige Ringe und Ketten und Broschen, für die man ein Haus kaufen konnte oder ein
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