Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
Vom Netzwerk:
wiederkehrendes Muster bilden, ob die Hummeln nicht in immer gleichen mühsamen Kurven vor den Steinlöchern pendeln, ob ich vielleicht gar nicht – Sie verstehen meinen Verdacht? – hier und jetzt existiere. Sondern mich statt in der realen in der virtuellen Welt eines Programmierers aufhalte, der mir mit der inzwischen preisgünstigen Assoziationssoftware aus meinen eigenen Erinnerungen einen neuen Lebensraum geklittert hat, in dem ich dann auch Ihren Brief empfangen und zu beantworten begonnen hätte. Noch immer fällt uns schwer, darauf zu vertrauen, dass wir jenen seltsamen und unerwarteten Vorgang der Erholung tatsächlich erleben, der sich seit einigen Jahren in der Natur vollzieht. Hatten wir die Bäume nicht aufgegeben? Welchem Ratschluss zufolge hat der Planet sich entschieden, uns aufzugeben und sich ohne Rücksicht auf unsere Spezies der eigenen Wiederherstellung zuzuwenden? Oder ist, was ich sehe, eine Fälschung? Ich durchlebe dann schreckliche Augenblicke der Ungewissheit, bis ich mich überzeugt habe, dass der Wind die Blätter tatsächlich in eine so chaotische Abfolge von Bewegungen versetzt, dass vorerst kein Programm sie nachvollziehen oder gar erzeugen könnte. Wie kostbar, nicht wahr, ist diese Landschaft, wenn sie echt ist! Dann erst ist auch Ihr Brief wieder ebenso real wie die heutige Zeitung. Aber was heißt real? Der ersten, der ursprünglichen Welt zugehörig? Der Schöpfung Gottes? Manchmal fürchte ich, dass wir unsere Erfahrungen auf den Reisen zwischen all unseren künstlichen Welten inzwischen ebenso wenig auseinanderhalten können wie jene Unglücklichen, die für immer in zweiten oder dritten, unauflöslich verschränkten Welten leben, und die wir darum als verrückt bezeichnen. Ich werde zurückgreifen müssen auf Erinnerungen, die wir nicht gemeinsam haben, um Ihnen erklären zu können, worin die eigentlichen Quellen der gegenwärtigen Finanzkrise liegen – denn es geht nicht um eine Ursache, die man finden und beseitigen könnte wie einen Rosendorn in der Kuppe des Zeigefingers. Ich weiß, dass auch ein Mann wie Sie, dessen Geldverbindungen meine Vorstellungskraft bei weitem überschreiten, erst erkennen muss, in welcher der möglichen Welten er sich befindet, bevor er handeln kann. Und ich weiß, dass solche Erkenntnis uns nur im Vergleich des eigenen Lebens mit dem anderer Menschen gewährt wird. Wir erkennen die eigene Geschichte ja an der Geschichte der anderen und sind, allein gelassen, dumm uns selbst gegenüber. Eben ist einer der Hunde aufgestanden und hat sich in den Schatten der Seitenmauer gelegt. Er ahnt nicht, wie froh ich für seine selbständige Bewegung bin. Manchmal glaube ich, dass wir uns überhaupt nur Haustiere halten, um uns der Wirklichkeit zu versichern. Ich hatte, wie ich Ihnen später beschreiben werde, Gelegenheit, mich aus dem Programm einer Weltkopie nur dadurch befreien zu können, dass ich auf meine eigenen Erfahrungen verzichtete und sie durch fremde ersetzte, die das Programm so verwirrten, dass es mich ausstieß. Vielleicht ist ja Ihre Frage auch so zu beantworten: Das Geld lässt sich nur retten, indem man auf es verzichtet. Wundern Sie sich bitte nicht, wenn ich in meiner nun begonnenen Folge von Briefen an Sie gelegentlich über Menschen und Ereignisse so schreibe, als sei ich gegenwärtig gewesen. Tatsächlich war ich in meiner Vorstellung häufig an vielen Orten zugleich, und immer wieder haben Behauptungen, die ich aufgestellt habe, sich im Nachhinein als sogenannte Tatsachen erwiesen. (Eine gleichsam konkrete Phantasie, die man weder mit Halluzination noch mit Prophetie verwechseln sollte.)
    Die Sonne hat sich jetzt so weit geneigt, dass der Schatten des Dachs über den kleinen Marmortisch gekrochen ist, an dem ich Ihnen schreibe. Ich spüre die Kälte und werde mich bald hinter die dicken, fünfhundert Jahre alten Mauern aus unbehauenen Natursteinen zurückziehen, in deren Spalten und Löchern ein reges Leben herrscht. Das Meer hat die Farbe der Eidechsen, bevor es den Feuerglanz der untergehenden Sonne annimmt. Wenn ich sie hinterm Horizont verliere, steigt wieder die Furcht auf, ich könnte gefangen sein in einem der künstlichen Träume, die Sie vielleicht noch nie betreten haben, vielleicht aber auch schon seit langem bewohnen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Kommen Sie nun – wir müssen eine Strecke zurückgehen, bis zu jenem Tag, an dem ich in Falling eintraf, jenem oberbayerischen Dorf, das für die künftigen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher