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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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Gedankengebäude der Welt vielleicht einmal ähnlich bedeutsam sein wird wie Königsberg oder Trier. Folgen Sie mir zur letzten Wohnstätte des Antimago , der mit bürgerlichem Namen – und wie bürgerlich er war, sollte sich erst spät herausstellen – Boris Reeper hieß.

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    BORIS REEPER? Der Name sagt Ihnen nichts mehr ? Sollte er aber. Der einst weltweit gefürchtete Guru der Antimagisten ! Der Schrecken aller Filmkonzerne und Fernsehsender! Keine Erinnerung an ihn? So geht es: Das Alter lässt allmählich alles in uns los. So, mein Freund, rast die Geschichte. Ihre heftigsten Bewegungen – eben noch für Zeitgenossen ein Schauspiel stürmischer Wellen – sind den Spaziergängern am Strand des nächsten Tages nur noch versickernde Rinnsale, nasse Flecken, die unter der Sonne verblassen. Der Große Antimago Boris Reeper. Unfassbar wie all die anderen entschwundenen Namen, Gesichter, Bücher, Klänge, Utopien? Bitte jetzt nicht schwindeln! Ehrlich! Ja, die Archive und das Internet! Aber der Kopf! Unser eigener Kopf? Ah, jetzt schwimmt etwas herauf, ich sehe, wie sich auf Ihrem Gesicht eine Ahnung spiegelt, wie Boris Reeper der amorphen Masse des Fernsehgedächtnisses entwächst. Schon klingen die Parolen der Ant-Imagisten (man konnte sie auch Anti-Magisten schreiben, und einige taten das auch) wieder in den ungemütlichen Kopf-Räumen auf, wo wir unsere eigenen Irrtümer versteckt haben, unsere Ängstlichkeit vor der Umkehr, unser Versagen vor dem berechtigten Alarm, unsere Ignoranz und die Augenbinden unserer Eitelkeit! Verzeihen Sie! Aber sind wir denn nicht dabei gewesen, als wir um das Beste kämpften, was unsere Erde zu bieten hat?
    Um die Wirklichkeit? Haben Sie etwa keinen (wenn auch vielleicht alten und funktionsuntüchtigen) Fotoapparat heimlich zu den »Baumkirchen« der Antimagisten getragen für die Aktion »Linsen weg für freien Blick«? Haben Sie nicht den VVV-Aufruf der Künstler und Intellektuellen »Vivo Versus Video« unterzeichnet? Haben wir nicht alle die Spende für den World Reality Fund von unseren Steuern abgesetzt, nicht obwohl, sondern weil wir wussten, dass hinter der Stiftung die Antimagisten standen? (Man konnte ja nicht wissen, wozu die Quittung einmal gut sein würde.) Keine Angst, niemand will Sie und mich beim Wort nehmen nach jenem bedenkenswerten Jahrtausend – das gottlob vorüber ist und dem aller Voraussicht nach wohl kein ganzes mehr folgen wird. Niemand auch will uns persönlich haftbar machen für die menschenfreundliche Idee Boris Reepers, die leider blutig endete – wie so viele freundliche andere zur Rettung der Welt.
    Während ich Ihnen diesen zweiten Brief schreibe – der erste ging wohl gestern von Dolcedo ab, obwohl man hier so ganz sicher nie sein darf – geht mir der Widerschein des Antimago in meiner eigenen Lebensgeschichte durch den Kopf, die Wutausbrüche meines Vaters vor den Fernsehnachrichten (»Wahnsinn! Idioten! Wahnsinn!«), die Wachträume kurz vor dem Einschlafen, in denen ich mich selbst heldenhaft an die Seite der »Realrevolutionäre« stellte, die Polizeiaufmärsche, Pressekonferenzen (»Dies ist eine Verschwörung gegen die Menschheit!«), die Sondergesetze zum Schutz der Fotografie und die blutigen Gesichter der entführten und geblendeten Fernsehdirektoren …
    Bis hin zum Ende des Spuks, weil die Schöpfung nicht so gerettet werden wollte, wie Reeper sie zu retten sich vorgenommen hatte.
    Jahrzehnte später dann, wir waren nicht mehr jung, die Meldung vom mysteriösen Ende des Antimago, seiner Gattin und seiner Geliebten. … Ja, der Tod kam so widersinnig über Reeper, seine Frau Elisabeth und seine Mätresse Lucia Vonghi, so lächerlich und abscheulich, dass er erwähnenswert bleibt in diesen an Widersinn, Lächerlichkeit und Abscheulichkeit überreichen vergangenen tausend Jahren. Man bezichtigte einen Japaner. Aber man fand ihn nicht. Mein Gott, hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß! Lieber Freund! Hätte ich damals gewusst, dass es wirklich um die Rettung der Welt ging – und dass es keine Sekte, sondern eine Philosophie des Geldes war, die zu retten vorgab, was sie jetzt zerstören wird. Jetzt! Da doch alles längst vorbei zu sein schien! All das war, als wir jung waren, nicht für uns absehbar. Die letzte große Ideologie des Jahrtausends ist auch ohne uns denkbar. Aber sie wird uns vernichten. Nachzügler sind ohnehin stets aus dem Schneider. Im Nachhinein gibt es niemals Teilnehmer. Also war niemand schuld und wird
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