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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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zu. Kunsteifrige, die wegen des ungefassten Birnenholzaltars in der Abteikirche, angeblich stammt er von Ruess d. Ä. (1439– 1487), hierher kommen, bleiben selten länger als eine Nacht, schwenken die Kreuzigungsgruppe bei gutem Frühlicht mit der Videokamera einmal hoch, einmal quer ab und führen sie derart nach Hause. Die Fallinger Wintermischung aus Öde und mürrischer Gastlichkeit war mir nicht unangenehm. Meine Frau Liliane, die Sie ja sehr gut kennen, hatte mir zugeredet, Falling sei der geeignete Ort, um die gedehnte Zeit zu genießen. Ich hatte vor ihrer besorgten Miene auf Widerspruch verzichtet, hatte mich folgsam aus meinem hellen Kalifornien in das alte Europa aufgemacht, zurück in die Heimat der leuchtendsten und der düstersten Menschheitsträume, deren vorerst letzter den Namen Ant-Imagismus (oder, wie gesagt, Anti-Magismus) trug.
    Die feuchtschwarzen Äste im Uferwald, das mit der Erde verklebte Laub, sein schwacher Moderduft und der Hochnebel mit einer mondbleichen Sonnenscheibe über dem See übten auf mich eine beruhigende Wirkung aus. Mein Gemüt löste sich, wurde nachgiebig und verlangte gar vor dem Morgenkaffee schon nach der Lektüre von deutschen Gedichten. Ich fand zwei Anthologien in einem kleinen staubigen Regal, das man als Ablage im Gang von der Hotelküche zum Speiseraum abgestellt hatte. In Falling begann ich nach wenigen Tagen zu ahnen, wie kostbar das Ende der hastigen Lebensbeweise sein konnte, an die ich mich in meinen amerikanischen Jahren gewöhnt hatte. Nichts drängte mich zu meinem Spaziergang zur nördlichen Bucht, wo ein braunes Flüsschen, die Fell, träge in den See mündet. Ich schreibe Ihnen die Wahrheit: Obwohl ich genau wusste, weshalb ich hierher entsandt worden war (bis heute glaube ich, dass Liliane damals nichts von dem Auftrag ahnte), wiegte ich mich nach meinem Eintreffen in Falling in der Hoffnung, dass ich hier gesunden würde – ohne zu wissen, wovon; es ist dies wohl die Eigenart deutscher Dörfer, dass man in ihnen, kaum angekommen, schon das Gefühl hat, genesungsbedürftig zu sein. Etwa eine halbe Wegstunde vor der Mündung der Fell in den See stößt, wer den Hauptweg verlässt und einen beschilderten Pfad linkerhand zum Ufer und seinen Wurzelbuchten hinab wählt, auf einen Steg, der durch ein weißrot geringeltes Plastikrohr zwischen zwei eisernen Gabelpfosten gesperrt ist: die Anlegestelle des Fährkahns, der die Weideninsel mit dem Land verbindet. Vor Jahrzehnten noch soll der See, den man bequem in drei Stunden umrunden kann, in fast jedem Winter zugefroren sein, so dass es möglich war, zu Fuß auf die Insel zu gelangen. Nun waren die Erinnerungen der betagtesten Fallinger Bürger an den hellen Donner nachts, wenn die Risse durchs Eis liefen, in Märchenferne gerückt, ein für immer verlorener Ton. Folglich musste auch niemand mehr seine Kinder ermahnen, sich nicht eher über das Ufer hinaus zu wagen, als bis der Fischmeister von Falling mit Eisenstangen die Zone tragfähigen Eises abgesteckt hatte. Der See braucht keinen Fischmeister mehr.
    Stellen Sie sich also vor, lieber Freund, wie ich an der beschriebenen Stelle meinen Spaziergang unterbreche und absichtslos zur Insel hinüberschaue. Und wie dort einer zwischen den Büschen hervortritt, als habe er auf mich gewartet. Er musste Ausschau nach Besuchern gehalten haben. Ich sah ihn am Inselsteg drüben in den Kahn steigen. Eine fremd anmutende, riesige Gestalt, mehr ein Mönch als der hier allenfalls zu erwartende Fährmann. Man erzählte mir später in Falling, dass er stets in abgetragenen Soutanen herumlief, die er sich bei den Pfarrern der Gegend erbettelte. An regnerischen Tagen und im Winter warf er sich eine Kutte aus dunkelbraunem Wollstoff über, mit einer breit auf die Schultern stoßenden Kapuze, die sein Gesicht einschattete und ihm ein altertümliches, nicht geheueres Ansehen verlieh.
    Im trapezförmigen Heck des Kahns stand er am Stangenruder und trieb mit gleichmäßig kreisenden Schlägen die kleine Fähre von der Insel zum Ufer her. Als der Kahn am Steg anlegte, sah ich, dass die Füße des Fährmanns nackt waren, schorfig, die Nägel zu Hornkuppen gebogen, schwarzbraun. Wer nicht genau hinsah, konnte sie für zertragene Schuhe halten. Er warf das Seil über den Pflock, bückte sich, ohne zu schwanken, wischte mit dem Zipfel seiner Kutte die seitlichen Sitzbänke ab. Dann sprang er – und wie leicht schien ihm dieser Sprung zu fallen – auf die glitschigen Planken des
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