Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
Vom Netzwerk:
niemand schuld sein. Ohne Angst können wir versuchen, uns zurechtzufinden in den Bilderschichten, die sich im Kopf abgelagert haben als verschlungene Sedimente! So weit, dass wir blind geworden wären für das, was wir hören und schmecken und riechen und anfassen können, ist es ja nicht gekommen.
    Der Antimago hat nicht recht behalten. Jedenfalls nicht ganz. Noch gibt es Wirklichkeit – vermutlich. Ich blicke auf vom Papier, im kalten Sonnenlicht breitet sich das weite Geflecht der Olivenbäume über die ligurischen Hänge. Das Mittelmeer blitzt im Talwinkel als behauener Kristall, und Signora Charisia Scalfa, meine Nachbarin – unsere Häuser lehnen sich aneinander – kommt mit weichem Hüftschwung den Berg herauf und trägt anmutig auf dem Kopf eine kleine Kiste Holz für ihren Kamin. In ihrer Gestalt erkenne ich meine Sehnsucht nach Glück. Boris Reeper ging an dieser Sehnsucht zugrunde. Und wenn nicht an ihr, dann ganz sicher an der tödlichen Sehnsucht, alle glücklich machen zu wollen . Auch ich kannte Tröstlicheres, als an den Abenden, wenn die täglichen Schrecken der Welt Einlass begehrten, den schwarzen Bildschirm im Wohnzimmer aufleuchten zu lassen und auf die blutigen Leichen der Fremden zu blicken … Ich gönnte mir wie alle die abendliche Säuglingsruhe an der Nabelschnur der Televisionen, durch die wir mit der ganzen Mutter Erde verbunden waren. Ah, diese köstliche Erschlaffung des Gehirns! Die infantile Lust, sich mit Bilderbrei füttern zu lassen! Und doch: wie schal das Gefühl nach dem Genuss, wie ärgerlich die vergeudete Zeit, wie groß die Neigung, sich zu befehlen: »Nie wieder!« Dennoch – ein emphatischer Bewunderer des großen Antimago war ich nie. Mir fehlte der nötige Fanatismus. Ohne Neigung, wenngleich absichtsvoll, gleichsam als Auserkorener, der endgültig Schluss machen sollte mit den noch immer gärenden Resten der Verschwörung zur Rettung der Welt, geriet ich auf jene Weideninsel, wo Boris Reeper begraben liegt, den die gnädigen unter seinen Gegnern einst »Boris, den Lügner« nannten; und seine Feinde, die er zahlreich hatte, nannten ihn »Jack the Reeper«. Die dünnknochigen Alten freilich, die von Mai bis Oktober immer noch zu seinem Grab und seinem Glashaus pilgern, nennen ihn aus Gewohnheit Antimago , mit dem Beiklang abgestandener Bewunderung, der den Verbrechen Boris Reepers eine Art Absolution verleiht – und seinen Mittätern. Viele, viele waren ja für ihr Leben überzeugt … Der Fallinger See, in dem die Insel hockt, ist nicht schwer zu finden. Auch wenn Sie ihn niemals aufsuchen werden, will ich mitteilen, dass die Wege an seinem Ufer gepflegt sind. Auf die Anlegestelle der Inselfähre wird jeder Umherstreifende unvermeidlich stoßen, der von dem Großdorf Falling
    – seit 1190 n. Chr. als Abtei, seit 1240 als Marktflecken beurkundet – an der Südspitze des Sees in nördlicher Richtung aufbricht, vielleicht um sich vom Anblick der aufgeforsteten Laubwälder das Unbehagen an seiner Stadtwohnung vertreiben zu lassen. Aber nicht selten sind in den lieblichen Landschaften Idylle und Schrecken gleichermaßen zu Hause. Denken Sie nur an die Schlachtfelder unter jedem Reiseweg! Mehr als andernorts hatte ich in Falling Grund, mich zu fragen, ob nicht der Gegensatz zwischen der Schönheit einer Idee und ihrer hässlichen Verwirklichung der gleiche sei wie der zwischen Natur und Geschichte … Schon im Jahr zuvor war hier der Schnee ausgeblieben, wie so häufig am Schluss des Jahrtausends. Dazu das Zeitungsgeschwätz von Endzeit, das uns – wie lange schon, wie lange noch? – begleitet.
    Falling vor den Bergen, einst bis nach Nagasaki und Los Angeles berühmt für die Langlaufpisten in seiner Umgebung und seine glückliche Lage in einem weit ausgebauten Skizirkus mit herrlichen Kunstschneeabfahrten, hatte nun zwei Golfplätze angelegt und sich auf Badekurbetrieb umgestellt, ohne dass es gelungen wäre, die Bettenbelegung den Traumstatistiken des ausgehenden Dezenniums anzugleichen. Wo also von Frühjahr bis Herbst haltbare Ehepaare sich aus sturer Gewohnheit für ihren Wanderurlaub einquartieren; wo die Alten auf der Suche nach der Legende des eigenen Lebens Station machen, um das Grab des Antimago und sein Glashaus mit dem »Mahnmal der Erinnerung« auf der Weideninsel zu sehen; da laufen im Winter fettleibige, von Steiß- und Schulterschmerzen geplagte Gestalten zwischen Badezentrum, Pensionen, Hotels, Restaurants und Casino der jeweils nächsten Anwendung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher