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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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Stegs, hob die Schranke und streckte mir die offene Hand entgegen. »Vier Euro. Und drüben auf den Wegen bleiben. Führung durch die Gedenkstätte neun. Macht dreizehn. Sie dürfen mir fünfzehn geben, einschließlich Erfrischung, die meisten kriegen Durst.« Durch glatten, schwarzen Spiegel auf die Insel zu. Schreie eines Eichelhäherpärchens. Ich ließ die rechte Hand ins Wasser hängen, in kleinen Strudeln umlief es meine Finger, weich und zu warm. Verwundert spürte ich in mir eine unbestimmte Furcht aufkommen, die im gleichen Maße wuchs, in dem ich sie abzuweisen versuchte; mir schien, sie nährte sich von meiner Abwehr. Ich gab ihr nach, blickte vom Wasser auf, und die Beklemmung verging. Der Mann hinter meinem Rücken bewegte schweigend das Ruder. Wenig mehr als ein Meter Bootslänge trennte mich von dem anderen, und doch war in dieser kurzen Distanz eine Entfernung, die mir vorkam wie ein Riss durch die Zeit.
    Der Hochnebel hatte sich jetzt aufgelöst, auf dem Wasser zuckten schwache Reflexe, belebten es, weckten mich aus meiner mir selbst unerklärlichen Verstörtheit. Die Insel wuchs vor dem Boot. Die Fassade des Herrenhauses, vor langer Zeit ockergelb gestrichen, hellte sich auf. Hinter seinem linken Flügel glänzten die Scheiben des nun zur Hälfte sichtbaren Glashauses, dessen Höhe mich überraschte. Wie immer, wenn ich an einen Ort kam, den ich aus illustrierten Reportagen oder Filmen kannte, waren die Proportionen auch hier nicht die erwarteten – verwirrend, gemessen an den Bildern. Mit der schrumpfenden Entfernung zog sich in meinem Blickwinkel das Haus hinter die Uferweiden zurück. Ihre peitschendünnen, still hängenden Zweige sahen aus wie nasse Haarschöpfe. Hinter den Weiden griffen zwei frei stehende Eichen in den Himmel. Ein dumpfer Schlag, Holz an Holz, ein kurzes, heftiges Schwanken, als der Fährmann vom Ruderbrett auf den Steg sprang, das Seil in der linken Hand, die rechte im selben Augenblick mir entgegengestreckt. Mit kräftigem Zug hob er den Fährgast auf die Planken, hielt meine Hand fest, stellte sich vor. »Ich bin Stieftaal, Hans Stieftaal, und ich werde Sie führen.«
    Sie wissen noch? Stieftaal? Tatsächlich? Ein Applaus für Ihr Gedächtnis! Ja, der, dessen Bilder einst über Satelliten an jeden Ort unseres Globusses gesendet wurden! Aber wie hätten Sie, hätte ich ihn vorher erkennen sollen, den elegant gekleideten Terroristen von einst, den letzten großen Täter des vergangenen Jahrhunderts?
    Sein Prozess in Paris! An jedem Tag trat er in einem anderen Anzug auf, und die Presse unterließ nicht, genauen Bericht zu geben von Eierschalenfarbe mit malachitgrünem Nadelstreifen, von Elfenbeinschwarz mit goldenem Hahnentritt, changierender, auf Rohseidenhemd, Marke Kanzelmacher, schwingender japanischer Samtkrawatte, mal Kusanaka, mal Omurushi, die Chrysantheme, weiß, auf Kaschmirjackett bleu, selbstverständlich Stinton’s, und die Patchworkschuhe, aus dem Hause Cigliani! »Stieftaal le Diable«, der Augenvernichter, »Satanic Philosopher of Darkening«, der im düsteren Flur vor dem Gerichtssaal den Arm ins Blitzgewitter der Bildberichterstatter streckte und jeder Linse sein »Untergang! Untergang!« zudonnerte, der hochmütig schöne »Distruttore di luce« mit dem gepflegten Gesicht … Nicht einer von den üblichen Massenschlächtern in Kaftan, Smoking, Soutane, Uniform und mit Jenseitsbotschaften zwischen gelben Zähnen. Von solchen hatten wir ja seinerzeit eine Schwemme, die über fünfzig Jahre währte. Ein Mann ausgefeiltesten Geschmacks ließ sich da fotografieren, mit Lust und anscheinend ohne Reue darüber, dass er einst ungezählte solcher Apparate, die jetzt sein Abbild weltweit multiplizierten, an den Augen der ahnungslosen Lichtbildner hatte explodieren lassen. »Ich grüße die Einäugigen in aller Welt«, hatte er nach dem Urteil gerufen. »Triumph of Cynicism«, schrieb damals die Kommentatorin des New York Daily , Milly Dorset.
    Erschrak ich? Ich weiß es nicht. Ich würde es Ihnen nicht vorenthalten. Aber ich ließ mir in diesem Augenblick so wenig anmerken, dass ich nicht entscheiden kann, ob auch ich mich erinnerte. Unwahrscheinlich genug, dass in meinem Kopf nichts zuckte, als ich den Namen hörte. Doch ich nickte nur und folgte meinem Führer. Sonnenlicht jetzt über der Insel, unentschieden zwischen Wärme und Schwäche. Stieftaal schien dankbar zu sein für diesen Gast im Spätherbst. Der kleingepflasterte Weg, den der Mönch nun voranging,
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