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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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So war der Beschluss der Geschichte. Und so geschah und geschieht es. Denn den Antimagismus in seinem Lauf halten weder Fudji noch Kodak auf.«
    Der leiernde Tonfall, in dem Stieftaal gesprochen hatte, schien mir nicht nur auf eingespurter Wiederholung zu beruhen, sondern ich spürte ein bis zur Abfälligkeit reichendes Desinteresse meines Führers an den eigenen Sätzen. »Schade«, sagte ich. »Im Mai kann ich nicht hier sein. Ich werde also die Treppenpyramide im Innern, über die man so viel gehört hat, nicht zu sehen bekommen.«
    Ich war dreiundvierzig Jahre alt und glaubte noch immer, das Schicksal ließe sich planen wie das Besitzverlangen durch die Werbung. Ich wusste nicht, was ich redete. »Lucia Vonghi war eine sehr schöne Frau«, sagte Stieftaal, »und eine große Künstlerin.« Ich hörte die Lust in Stieftaals Stimme, eine abgeklungene, dennoch wahrnehmbare, nachträumende Lust, die in diesem Augenblick vor dem Wolkengebirge über Dolcedo mich selbst ergreift und aus einer Kaverne meiner Erinnerung Liliane heraufruft – schmerzhaft, unüberhörbar, obwohl ich mich sofort bemühe, taub und empfindungslos zu sein. Anders als damals, als ich noch keinen Grund zur Trauer hatte. »Sie müssen wissen«, sagte Stieftaal, »dass es für den Großen Antimago nur eine Realität gab, der er ganz vertraut hat: das war der schöne Körper von Signora Vonghi.« Aber da hörte ich schon nur noch Liliane und das tiefe, angenehme Surren des Zuges nach Prag.

3
    EINE ANTWORT VON IHNEN! So ist nun unsere Korrespondenz in Gang gekommen, und Giacco wird seine Markensammlung um etliche amerikanische Beispiele erweitern. Heute kam er schon weniger hastig mit Ihrem Brief den Berg herauf, was einesteils an der ungewöhnlichen Kälte liegen mochte, die seit gestern die ganze Rivieraküste lähmt, andernteils aber auch zeigt, dass er schon beginnt, sich an unseren Briefwechsel zu gewöhnen und nicht mehr meint, mit jeder neuen Sendung zu mir stürmen zu müssen, als hielte er einen Gewinnbescheid der Lotterie in den Händen. Während er in meiner Küche stand und ich ihm eine Tasse Tee gab, schmolzen die Schneeflocken auf seiner braunen Wollmütze. Ja, stellen Sie sich vor: Die Kirschbäume blühen, und es schneit! Was für ein schöner Hinweis auf die Planlosigkeit der Realität. Kein Programmierer würde ein solches Doppelspiel in seinem künstlichen Ambiente vorsehen. Ich bin darum froh über den Schnee, obwohl er mir die Freude an der Kirschblüte verdirbt. Ich danke Ihnen, lieber Freund, für Ihr Vertrauen; und die Herzlichkeit, mit der Sie mich bitten, doch zu dem unter uns vor Jahrzehnten üblichen »Du« zurückzukehren, hätte mich fast gerührt, mehr noch, sie hätte mich fast überzeugt. Denn natürlich habe ich in den zwei Wochen, die seit meinem ersten Brief vergangen sind, viel an unsere gemeinsame Zeit (die Alten hätten uns damals Jünglinge genannt) denken müssen, und so stellte sich auch in mir die einstige Nähe wieder ein. Mit ihr das »Du«, und jetzt die Gewissheit, wie sehr Sie trotz ihres ganz amerikanischen Lebens ein Deutscher geblieben sind. (Ich nicht minder …) Für einen Augenblick vergaß ich, dass auch die scheinbar festen Erinnerungen aus Asche bestehen, dass man sie nicht berühren kann, ohne ihren Zerfall zu riskieren. Doch als ich dann erst einmal Holz aus dem kleinen Schuppen oben hinterm Haus holen und es zerkleinern musste, kam mir in der kalten Luft draußen wieder zu Bewusstsein, wie wenig ein »Du« meinerseits Ihnen gegenüber angebracht wäre. Uns trennen ja doch Welten – ein Plural, der fragwürdig ist –, und ich glaube nicht, dass wir das Gefälle von Ihnen zu mir unbeachtet lassen sollten. Von fiktiver Nähe halte ich nichts. Ich belasse es also bei »Lieber Freund« und der dritten Person und bitte Sie, dies als meine besondere Form der Zuneigung zu deuten. Wenn Sie mir hingegen weiterhin Ihr Du und Ihr »Lieber Heinrich« erhalten, soll es mich freuen. Nun sitze ich an meinem Küchentisch aus Pinienbrettern, träume der Maserung nach, die Teekanne summt auf dem offenen Kaminofen, die Hunde liegen so nahe am Feuer, dass man fürchtet, unter dem heißen schwarzen Fell könnte das Fleisch garen. Vor dem kleinen Fenster meiner Küche sehe ich nur ein kurzes Stück des Weges, dann verhängt der Schneefall das Bild, und ich bin auf meine Ahnung der Landschaft angewiesen. Ich werde nun keine langen Pausen zwischen den Briefen mehr machen, und so wird sich zwischen uns ein
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