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Xeelee 3: Ring

Xeelee 3: Ring

Titel: Xeelee 3: Ring
Autoren: Stephen Baxter
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1

    SCHON IM AUGENBLICK ihrer Geburt erkannte sie, daß etwas nicht stimmte.
    Ein Gesicht hing groß über ihr: breit, mit glatter Haut und lächelnd. Die Wangen waren feucht, und die großen Augen glitzerten. »Lieserl. O Lieserl…«
    Lieserl. So hieß ich damals.
    Sie erkundete das Gesicht, studierte die Linien um die Augen, die humorvoll nach oben gezogenen Mundwinkel, die kräftige Nase. Es war ein intelligentes, lebenserfahrenes Gesicht. Dies ist ein gutes menschliches Wesen, sagte sie sich. Gute Zucht…
    ›Gute Zucht‹?
    Das war unmöglich. Sie war unmöglich. Sie erschrak vor ihrem eigenen explosiven Bewußtsein. Sie hätte noch nicht einmal in der Lage sein dürfen, etwas mit ihren Augen zu erkennen…
    Sie versuchte, das Gesicht ihrer Mutter zu berühren. Ihre Hand war noch feucht vom Fruchtwasser – aber sie wuchs sichtlich, die Knochen verlängerten und verbreiterten sich und füllten die lose Haut wie einen Handschuh aus.
    Sie öffnete den Mund. Er war trocken, und das Zahnfleisch war bereits wund wegen der zum Vorschein kommenden Milchzähne.
    Starke Arme umfaßten sie, und knochige, erwachsene Finger gruben sich in das schmerzende Fleisch ihres Rückens. Sie konnte andere Erwachsene in ihrer Nähe wahrnehmen, das Bett, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, die Konturen eines Zimmers.
    Ihre Mutter hielt sie vor einem Fenster in die Höhe. Lieserls Kopf fiel nach hinten, denn die sich ausbildenden Muskeln waren noch zu schwach, um das zunehmende Gewicht des Kopfes zu stützen. Speichel benetzte ihr Kinn.
    Ein intensives Licht blendete ihre Augen.
    Sie schrie auf.
    Ihre Mutter legte die Arme um sie. »Die Sonne, Lieserl. Die Sonne…«

    Die ersten Tage waren am schlimmsten.
    Ihre Eltern – unglaublich große, dräuende Gestalten – brachten sie in hell erleuchtete Räume und einen Garten, der ständig von Sonnenlicht überflutet war. Sie lernte, sich aufzusetzen. Ihre Rückenmuskeln verbreiterten sich und pulsierten, während sie wuchsen. Um sie von dem ständigen Schmerz abzulenken, hampelten Clowns vor ihr über den Rasen und kicherten aus Mündern mit dicken, roten Lippen, bevor sie ihre Existenz schließlich in einer Pixelwolke beendeten.
    Sie wuchs explosionsartig, aß fortwährend und speicherte Millionen von Eindrücken in ihrem zarten Sensorium ab.
    Dieser Ort, dieses Anwesen, schien über eine unbegrenzte Anzahl von Zimmern zu verfügen. Langsam begann sie zu verstehen, daß einige der Räume virtuelle Kammern waren – Bildschirme, auf die beliebig viele Bilder projiziert werden konnten. Doch auch so mußte das Anwesen noch Hunderte von Zimmern umfassen. Und sie und ihre Eltern lebten nicht allein hier. Es gab auch noch andere Leute. Diese hielten sich zunächst jedoch bedeckt und machten sich nur durch ihre Handlungen bemerkbar: die Mahlzeiten, die sie zubereiteten, die Spielzeuge, die sie ihr hinstellten.
    Am dritten Tag nahmen ihre Eltern sie auf einen Flug in einem Gleiter mit. Es war das erstemal, daß sie das Haus und das Grundstück verließ. Als der Gleiter aufstieg, schaute sie aus den großen Fenstern und drückte die Nase an erwärmtes Glas.
    Das Anwesen war ein Konglomerat aus weißen würfelförmigen Gebäuden, die durch Passagen miteinander verbunden und von Gartenanlagen umgeben waren – Rasen und Bäumen. Weiter draußen waren Brücken und Straßen zu sehen, die sich durch die Luft schwangen, und Häuser durchsetzten wie Bauklötze die glühenden Hänge.
    Der Gleiter gewann weiter an Höhe.
    Der Flug führte bogenförmig über eine Spielzeuglandschaft hinweg; ein kurvenförmiger Ausschnitt blauen Ozeans grenzte an das Land um sie herum. Ihre Mutter sagte ihr, daß dies die Insel Skiros sei, und das Meer würde Ägäis genannt. Ihr Anwesen war das größte auf der Insel. Im Zentrum der Insel konnte sie eine Anzahl großer, brauner Kugeln erkennen: Phillida erklärte ihr, daß es sich hierbei um Kuppeln zur Kohlenstoffgewinnung handelte, Trockeneiskugeln mit einem Durchmesser von vierhundert Metern.
    Schließlich landete der Gleiter auf einer grasbewachsenen Fläche an der Küste eines Meeres. Die Mutter hob sie aus dem Gleiter und stellte sie auf das harte, sandige Gras.
    Hand in Hand gingen sie über eine niedrige Düne zum Strand hinunter.
    Die Sonne brannte von einem unerträglich blauen Himmel herab. Ihr Sehvermögen schien über eine Zoomfunktion zu verfügen. Sie betrachtete in der Entfernung spielende Gruppen von Kindern und Erwachsenen – weit entfernt,
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