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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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unseren genügsamen Studientagen in Prag und Paris noch wissen, dass ich von Finanzen eigentlich rein gar nichts verstehe. Sehr freundlich, dass Sie meine »Imagination« so hoch schätzen. Immerhin: Wir haben eine gemeinsame Erinnerung, die mich hoffen lässt, dass ich Ihnen behilflich sein kann, mit meiner seither stetig gewachsenen Fähigkeit, andere Menschen, Räume, Zeiten zu imaginieren und dabei tatsächlich zu sehen, was vorgeht oder vorging. Denn dies ist alles, worauf ich meine Übung richte. Während viele Menschen immer mehr Bilder durchschauen wollten, habe ich meine Fertigkeiten, Zeit und Raum ein zusehen, verfeinert, so gut ich nur konnte. Man wird dabei einsam und bedauert, dass das einzige, was aus dem Paradies uns mitzunehmen erlaubt war, die Phantasie nämlich, nun zum Gut einer Minderheit verkümmert, die sich nicht in vorfabrizierten Scheinwelten herumtreibt, sondern sich andere Wirklichkeiten ausdenkt.
    Da mir Ihr freundliches Angebot, meine Anstrengungen mit Geld zu honorieren, in merkwürdigem Gegensatz zu den derzeitigen Verfallserscheinungen aller Währungen zu stehen scheint, will ich Sie bitten, sich, wenn ich denn letztlich helfen konnte, mit ein paar Gaben aus Ihrem gewiss vorzüglich sortierten Weinkeller erkenntlich zu zeigen. Mehr nicht. Besonders liegt mir an den Piemonteser Rotweinen (vorzugsweise Barolo Sperss von Angelo Gaja oder dem Barilot von Michele Chiarlo, möglicherweise auch seinen Countacc , was piemontesisch für »Erstaunen« steht) der Jahrgänge 1986/88/89, sie sind kaum mehr zu bekommen, selbst wenn ich das Geld hätte. Die Bestände scheinen sämtlich in New York und Tokio zu lagern. Man wird sich künftig vom Warenwert einer Flasche Gaja -Barbaresco jener Jahre bei mittlerem Aufwand mit einer vierköpfigen Familie zwölf Monate erhalten können, als Single wie ich rund drei Jahre. Sie wissen ja, dass wir auf den Tauschhandel zurasen, und meine Gedichte – erinnern Sie sich? – sind leider kein Brot wert. So mögen Sie ermessen, wie glücklich ich einerseits über Ihre Anfrage bin. Auch wenn ich andererseits in meiner Antwort mehrere durchaus strafbare Tatsachen offen legen muss, unter anderem Tötungsdelikte, die ich aus Rücksicht lieber verschwiegen hätte. Allerdings ahne ich, dass nach dem Verschwinden des Geldes auch die Justiz sich nicht halten wird. Was mich verwirrt, ist der Umstand, dass Sie selbst nicht auf die Ursache des zunehmenden Chaos in den Geldbewegungen gekommen sind. Es geht ja doch um eine durchaus aktenkundige Person. Um eine freilich, die seit längerem tot ist, was auch mich einer Reihe von Fragen aussetzt, die ich vorderhand nicht beantworten will. Sie alle berühren sich in der Feststellung, dass wir die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Einbildung nicht nur überschritten, sondern, was wohl tödlich sein wird, gelöscht haben.
    Wenn ich aus meinem kleinen, nach zwei Seiten hin offenen Innenhof, in dem ein alter Pinientisch mit einer Bank und, neben den Stufen zum Haus, das runde Marmortischchen stehen – wenn ich von hier aus, wo jetzt zur Osterzeit schon die Ameisen laufen und meine beiden schwarzen Münsterländer auf den Schieferplatten in der Sonne dösen, als sei schon Sommer, hinaus sehe auf die Hänge mit den Olivenbäumen, auf das Tal, das sich bis zu jenem Winkel im Horizont zieht, in dem bleigrau das Meer steht – wenn ich all dies betrachte, das matte Silber der Olivenblätter, das mich an die Bachweiden des Nordens erinnert, Hausdächer, die ockerrot zwischen den Zypressen leuchten, die fern, schräg und zerbrechlich aufragenden, gelbweißen Companiles mit ihren ausbordenden Glockenrädern, die ersten hellgrünen Triebe am Feigenbaum, der am Rand der Terrasse wächst; wenn ich höre, wie das schwere Brummen der Hummeln an der Hauswand beantwortet wird von den aufheulenden Motoren unten im Tal, wo die jungen Männer wie eh und je durch die Serpentinen jagen, als ginge es nur darum, möglichst jung zu sterben; wenn ich mir auf Grund dieser Beobachtung sicher bin: hier, jetzt existiere ich – dann, mein Freund, packt mich plötzlich ein körperlicher Schwindel vom Kopf bis in die Fußsohlen, und ich werde unsicher, ob ich nicht dieses Tal mit diesem Meeresausschnitt schon einmal ganz ähnlich in Kalifornien gesehen und vielleicht nur hierher übertragen habe; und ich beobachte angestrengt, ob die Zweige der Bäume nicht doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit ihre Schwingungen im Wind wiederholen, die Blätter nicht ein
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