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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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beiden Händen zu und setzte sich.
    Lucia Vonghi wandte sich mir zu. »Die Verteidigung hat das Wort.« Mein Kopf war leer wie ein ausgegossener Krug. Ich stand auf. Ich hatte keinen Anfang, keinen Weg, kein Ziel. Ich sah Stieftaal an, der zu schlafen schien. Dann Dschejdschej. Er nickte. Er an meiner Stelle hätte jetzt ein sprühendes Plädoyer gehalten. Aber war er denn wirklich hier? Jatsu Tsin starrte mich an. Hatte er nicht in Wirklichkeit den Auftrag, mich zu töten? Wo trug er sein Messer Kleine Heimat? »Nun, mein Sohn?« fragte Reeper über den Tisch. Ich zuckte zusammen. »Hast du denn gar nichts vorzubringen, was den Unglücklichen vor dem ewigen Leben bewahren könnte?« Aber wer bewahrt mich ? Plötzlich war diese Frage in meinem Kopf. Sie stand als große Schrift an der Innenseite meiner Stirn. Und ich begann zu sprechen, als ob ich ein anderer wäre, der sich seiner Stärke bewusst war. »Ich weiß nicht, ob ich Hans Stieftaal verteidigen kann. Ich weiß nicht einmal, ob die Behauptungen, mit denen er angeklagt wird, zutreffen. Ich weiß nur, dass nicht er den Verrat begangen hat, sondern dass ich es war.« Immerhin lösten die Worte Gemurmel im Publikum aus. Reeper lehnte sich zurück und kniff die Augen zusammen. Die Siegerpose fiel von ihm ab. Das machte mir Mut. »Ich glaube, ich bin hier der Angeklagte. Auch wenn der Antimago mich seinen Sohn nennt. Vielleicht hat er mir verziehen, dass ich herkam, um seine Welt – Ihrer aller Welt, meine Damen und Herren, die eine Scheinwelt ist – zu zerstören! Stieftaal musste mir nichts verraten. Ich bin Fachmann genug, um das ETERNITY -Programm zu erkennen und zu bearbeiten! Ich gelte als einer der geschicktesten Bildfälscher in der Werbebranche! Sie werden vielleicht nachvollziehen können, dass jemand wie ich nicht ruhig zusehen will, wie ein Programm in weltweiter Vernetzung die Zerstörung aller Bilder betreibt – und vielleicht, wer weiß das, auf eine noch umfassendere Zerstörung zielt! Der verehrte Antimago hat uns über seine weiteren Pläne im Unklaren gelassen. Das heißt, mit allem Respekt gesagt, er ist mir unheimlich. Und was unheimlich ist, löschen wir aus.« Während ich sprach, konnte ich sehen, dass ich mich aus mir löste, dass einer sich hier am Gerichtstisch wissentlich um Kopf und Kragen redete, während der andere auf Reeper zuging und ihn um Verzeihung bat. »Ich habe Stieftaal getäuscht! Ich habe ihn benutzt! So wie er benutzt wurde, um das Heiligtum hier zu erhalten. Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als hier zu bleiben. Er wäre nie im Leben darauf gekommen, den Antimagismus zu verraten! Er hat ihn beschützt und geliebt!« Reeper, der meinen Sätzen mit wachsender Unruhe gefolgt war, sprang auf und schrie: »Schluss! Schluss mit den Lügen, Heinrich! Du warst das Werkzeug dieses Verräters!« Seine Stimme kippte in den Diskant. »Und nicht nur dieses einen! Wir haben es nämlich nicht mit individuellem Verrat zu tun, Hohes Tribunal, sondern mit einer Verschwörung ungeheuren Ausmaßes! Aber ich werde sie alle finden! Täuscht euch nicht! Ich kenne sie alle! Auch hier im Saal!« Jetzt hielt es auch die Zuschauer nicht auf den Stühlen, Tumult brach los, Reeper lief zu seinen Frauen und redete auf sie ein, Adolf und Jossif steckten ihre Köpfe dazu und nickten ununterbrochen. Stieftaal saß reglos. Dschejdschej nutzte die Verwirrung, auch er verdoppelte sich und löste seine zweite Gestalt von der ersten, kam zu mir herüber und zog mich aus dem Saal.
    Die Halle war dunkel. Ein schwacher Schein hinter den hohen Fenstern, die Nibelungen bleich und mit ihren üblichen finsteren Blicken. »Wo steht der Rechner?« fragte Dschejdschej, er stolperte hinter mir die Treppe hinauf, ich führte ihn auf den Dachboden, schaltete das Licht ein. Dschejdschej keuchte, griff sich ans Herz und sah zum ersten Mal die Anlage Reepers. Er erfasste die Situation sehr schnell. »Neurale Netze. Selbstlernende Einheiten. Nicht das Neueste, aber widerwärtig genug. Ich hatte auf eine glatte Operation gehofft. Aber einfache Trennung hilft nicht. Entweder stürzen wir alle ab oder er flüchtet sich in eine Kopie irgendwo auf der Welt, und alles geht weiter.« » Wer sind wir jetzt, und wo sind wir jetzt«, fragte ich ihn. »Wenn ich dir das sagen könnte, wären wir nicht hier. Kannst du das Ding booten oder hat er sich zu verweigern gelernt?« Ich warf die Schlüssel-DVD ein, der Computer startete folgsam mit seinem Teufelston, fragte nach
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