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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler
Autoren: Gert Heidenreich
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Seite die Bildhauerin Lucia Vonghi, ihnen gegenüber Anna und ich, so dass ich in den Kreis der Familie eingebunden war. Am unteren Ende der Tafel blieben zwei Plätze frei. Es ging sehr laut zu bei diesem Dîner. Das Klirren, Klappern und Schmatzen, Schwatzen und Kichern klang mit einer hellen und scharfen Brillanz an mein Ohr. Reeper erhob sich. Stille trat ein. »Es ist an der Zeit, meine Freunde, euch hohen Besuch anzukündigen!« Auf sein Zeichen riss Jossif die Saaltür auf, und Adolf, zufällig gerade hinter ihr und im Anlauf, um sie aufzutreten, schoss, unvermutet des erwarteten Widerstands beraubt, ein Tablett mit zwei Flaschen Rotwein steil vor sich her, in den Saal, kam weit nach vorn gelehnt seinem gestreckten Arm kaum mit den Beinen nach, man sah ihn schon aus der Schräglage kippen, da holte sein Unterleib den Oberkörper gerade noch ein, wandte den Überschuss seiner Bewegung mittels einer abenteuerlich geneigten Linkskurve in die Gegenrichtung und stand zitternd, unter dem Gelächter der Gesellschaft, neben Reeper. »Mein Gott!« rief der, »wann endlich lernst du, dass du nie gemeint bist, wenn ich hohen Besuch ankündige! Oder muss ich das auch noch selber programmieren?« Adolf zog den Kopf zwischen die Schultern. Die Gemeinten standen bereits in der Tür. Der hohe und der kleine Greis, beide im Frack. Die mächtig gewölbte Vollglatze des Großen glänzte im Licht, die langen weißen Haare des Gedrungenen fielen bis auf das Revers seines Jacketts. Alle am Tisch erhoben sich, aus dem Erstaunen wuchs jetzt ein vielstimmiges Summen, dessen vereinigter Klang jenen aufspringenden Tritonus bildete, mit dem Reepers Rechner zu starten pflegte und der offenbar so etwas wie die geheime Hymne der Antimagisten war. Die Greise verbeugten sich. Das Summen schwoll an und brach auf ein Zeichen des Antimago ab.
    Er musste mir die Namen der beiden nicht nennen. Es waren Sir Dschejdschej aus Malibu und Jatsu Tsin vom Gipfel des Nakadake.
    »Ich habe euch gerufen, und ihr seid gekommen, treueste Freunde!« sagte Reeper und ging auf sie zu. Er neigte sich mit vor der Brust gekreuzten Armen vor dem japanischen Vulkanologen – »Ich grüße den Meister Jatsu Tsin!« – er richtete sich auf, sah Sir Dschejdschej in die Augen – »Ich grüße den Meister Jens Jakob von Tonnda!« – breitete die Arme aus, umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund. »Ich freue mich, dich gesund und munter zu sehen«, erwiderte Dschejdschej, blickte dabei aber über Reepers Schulter zu mir her. Die Greise wurden auf den für sie freigehaltenen Plätzen am unteren Ende der Tafel von Jossif bedient, während Adolf uns übrigen das Dessert, eine Creme Bavaroise mit Himbeermark, aus großen Glasschüsseln servierte und dabei reichlicher über das Tischtuch als in unsere Kristallschalen verteilte. Auf dem weißen Damast fügte sich die Mischung wie explodierte Innereien in die Landkarte der Blutflecken, und Jossif Wissarionowitsch lachte dreckig. Reeper wandte sich angeekelt ab, zog ein kleines Notepad aus den Falten seines Kardinalsmantels, gab Befehle ein: Lautlos verblichen Geschirr, Gläser, Besteck auf der Tafel, das Tischtuch strahlte rein, und im selben Augenblick verspürte ich heftigen Hunger, als sei zugleich das Essen aus meinem Magen verschwunden; auch andere Gäste legten die Hand auf den Bauch, Protest wurde laut, Reeper entschuldigte sich, gab neue Befehle ein, die Gläser kehrten zurück auf das Schlachtfeld und mit ihnen das Gefühl, gesättigt zu sein. Erleichtertes Raunen.
    Anna beugte sich zu ihrem Vater hinüber und küsste ihn auf die Wange. »Hohes Tribunal!« rief er und stand auf. »Wir haben zu arbeiten!« Wieder programmierte er die kleine Externstelle seines Rechners: Die freie Fläche des Saals füllte sich mit Stühlen, die sich in geordneter Reihe geräuschlos aus dem Parkettboden stülpten. Der Gerichtssaal war bereitet. Hinter der Mitte der Tafel nahmen Elisabeth Reeper und Lucia Vonghi Platz, ihnen zur Rechten und Linken Adolf und Jossif. »Das Gericht tagt bis zum Urteil«, rief die Richterin mit dem Krokodil an der Brust und schlug mit der flachen Hand dreimal auf den Bluttisch. Das Publikum setzte sich. So begann das Tribunal, vor dem ich in jener Nacht Hans Stieftaal verteidigen sollte. Keiner von uns ahnte freilich, was wirklich geschehen würde. Auch Dschejdschej nicht, der mir zuflüsterte, Liliane sei »auf dem Weg hierher«. Reeper zog mich zum Tisch und wies mir einen Platz an der unteren Schmalseite
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