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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf
Autoren: Glen Duncan
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Erster Mond
So mag er fallen
    1.
    »Jetzt ist es amtlich«, hatte Harley gesagt. »Vor zwei Nächten haben sie den Berliner erwischt. Du bist der Letzte.« Dann, nach einer Pause: »Tut mir leid.«
    Das war gestern Abend gewesen. Wir saßen oben in der Bibliothek in Harleys Anwesen in Earl’s Court; er stand angespannt zwischen Kamin und ochsenblutfarbenem Ledersofa, ich saß mit einem Glas fünfundvierzigjährigem Macallan und einer Camel Filter auf der Fensterbank und starrte hinaus in den dichten Schneefall über dem nächtlichen London. Im Zimmer duftete es nach Orangen und Leder und dem Fichtenholz im Kamin. Selbst achtundvierzig Stunden nach dem Fluch war ich immer noch völlig erledigt. Wolf zehrt vor allem an Handgelenken und Schulter. Trotz allem, was ich gerade erfahren hatte, dachte ich: ›Madeline kann mich später noch massieren, mit warmem Jasminöl und ihren Magnolienfingern mit den langen Fingernägeln, die ich nicht mag und nie mögen werde.‹
    »Und was hast du jetzt vor?«, fragte Harley.
    Ich nahm einen Schluck, der Whiskey brannte mir in der Brust, und ich sah die bleichen Beine des Macallan-Clans im Kilt vor mir, wie sie durch das Torfmoor wateten.
Es ist amtlich. Du bist der Letzte. Tut mir leid
. Ich wusste, was Harley mir hatte sagen wollen. Jetzt hatte er es gesagt, und nun? Vage ontologische Schwindelgefühle. Kubricks Astronaut mit durchtrennter Nabelschnur, der ganz allein in die Unendlichkeit taumelt … Ab einem gewissen Punkt verweigert sich einem die Vorstellungskraft. Unerträglich, darüber nachzudenken.
Man mag gar nicht daran denken.
Offensichtlich nicht.
    »Marlowe?«
    »Dieses Zimmer bedeutet dir überhaupt nichts«, sagte ich. »Die Bücherwürmer dieser Welt würden in Freudentränen ausbrechen.« Ohne Übertreibung. Harleys Sammlung ist über anderthalb Millionen Pfund wert, alles Bücher, die er nicht mehr in die Hand nimmt, weil er das Stadium erreicht hat, in dem er nicht mehr liest. Wenn er noch ein weiteres Jahrzehnt lebt, wird er das nächste Stadium erreichen und wieder zu den Büchern greifen. Im ersten Augenblick kommt einem der Verzicht aufs Lesen wie der Gipfel der Lebensreife vor. Wie alle solche Gipfel nur eine Sinnestäuschung. Das ist menschlich. Ist mir schon unzählige Male passiert. In zweihundert Jahren sieht man alles unzählige Male.
    »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das für dich sein muss«, sagte er.
    »Ich mir auch nicht.«
    »Wir müssen uns was überlegen.«
    Ich erwiderte nichts darauf. Stattdessen überließ ich es der Stille, die Alternative auszusprechen. Harley zündete sich eine Gauloise an, schenkte uns mit unsicherer, blaugeäderter und leberfleckig gewordener Hand nach. Mit siebzig trägt er noch immer langes, schütter graues Haar und einen buschigen nikotinfleckigen Schnurrbart, der gewachst aussieht, es aber nicht ist. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hatten ihn seine jungen Männer Buffalo Bill genannt. Heute kennen seine jungen Männer Buffalo Bill nur als den Serienmörder aus
Das Schweigen der Lämmer
. In Zeiten psychischer Schwäche stützt er sich auf einen Stock mit beinernem Knauf, obwohl ihm sein Arzt gesagt hat, er würde seine Wirbelsäule damit ruinieren.
    »Hat Grainer den Berliner erledigt?«, fragte ich.
    »Nicht Grainer. Ellis, sein kalifornischer Schützling.«
    »Grainer spart seine Kräfte für das große Ereignis auf. Er will mich ganz für sich allein.«
    Harley setzte sich auf die Couch und starrte zu Boden. Ich weiß, was ihm Angst macht: Sterbe ich vor ihm, dann liegt keine erlösende Surrealität mehr zwischen ihm und seinem Gewissen. Jake Marlowe ist ein Monster, Punkt. Er tötet und frisst Menschen, Punkt. Was ihn, Harley, zum Mitwisser macht, Punkt. Solange ich lebe, wandle und rede und einmal im Monat die mondgesteuerte Metamorphose durchmache, kann er sich darin wie in einem dekadenten Traum einrichten.
Ach, hab ich übrigens schon erwähnt, mein bester Freund ist ein Werwolf?
Bin ich tot, kommt das brutale Erwachen.
Ich habe dem Mörder Marlowe dabei geholfen, davonzukommen.
Wahrscheinlich bringt er sich dann um oder wird ein für alle Mal verrückt. Einer seiner oberen Schneidezähne ist aus Gold, ein dentaler Anachronismus, der sowieso schon auf leichten Wahnsinn hindeutet.
    »Beim nächsten Vollmond«, sagte er, »ist dem Rest der Jagdgesellschaft Rückzug befohlen worden. Das ist Grainers Party. Du weißt ja, wie er ist.«
    Ja, weiß ich. Eric Grainer ist der Obermacker der
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