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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf
Autoren: Glen Duncan
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wieder mal mit völliger Starre spielen). Eine Haltung nach der anderen habe ich verschlissen: Hedonismus, Askese, Spontaneität, Nachdenklichkeit, alles vom elenden Sokrates bis zum glücklichen Schwein. Die Mechanik ist abgenutzt. Ich hab nicht das Zeug dazu. Ich habe noch Gefühle, aber ich bin sie leid. Aber auch das ist ein Gefühl, das ich leid bin. Ich will … Ich will einfach kein
Leben
mehr.
    Harley fiel von Besorgnis in Morbidität, dann in Melancholie, doch ich blieb verträumt, locker, teils gewollte Beschränktheit, teils zenhaftes Hinnehmen, teils auch die Unfähigkeit, mich zu konzentrieren. Das kannst du doch nicht einfach übergehen, sagte Harley immer wieder. Du kannst doch nicht einfach so
abtreten
. Eine Weile entgegnete ich darauf milde gestimmt: Warum nicht? Und: Aber sicher kann ich das, aber Harley regte sich so darüber auf – selbst der Stock mit dem beinernen Knauf kam wieder ins Spiel –, dass ich um sein Herz fürchtete und das Thema wechselte. »Lass mich das erst mal verdauen«, meinte ich zu ihm, »ich muss erst darüber nachdenken. Jetzt lass ich mich erst mal flachlegen, das ist schon ausgemacht, und ich bezahle jetzt schon dafür, während wir hier noch reden.« Das stimmte (Madeline wartete in einem schicken Hotel am anderen Ende der Stadt auf mich, 360  Pfund pro Nacht für das Zimmer), doch auch das war für Harley kein angenehmes Gesprächsthema: von der Prostata-Operation vor drei Monaten war seine Libido noch ganz mürrisch, und die Londoner Strichjungen waren um einen großzügigen Kunden gebracht worden. Wenigstens konnte ich mich von ihm loseisen. Tränenreich und betrunken umarmte er mich, bestand darauf, dass ich mir eine Wollmütze auslieh, und nahm mir das Versprechen ab, ihn in vierundzwanzig Stunden anzurufen, und dann sei Schluss, wiederholte er mehrmals, mit all diesem jämmerlich tuntigen Hamletscheiß.
    Als ich auf die Straße kam, schneite es noch immer. Der Verkehr war fast völlig zum Erliegen gekommen, die U-Bahn-Station Earl’s Court geschlossen. Einen Augenblick stand ich da und gewöhnte mich an die brutale Unschuld der Luft. Ich hatte den Berliner nicht gekannt, aber schließlich war er einer von meiner Art gewesen, oder nicht? Vor zwei Jahren war er im Schwarzwald nur knapp entkommen, war in die Staaten entflohen und in Alaska vom Radar verschwunden. Wenn er in der Wildnis geblieben wäre, dann wäre er vielleicht noch am Leben (die Vorstellung von der Wildnis weckte das Geistertier in mir, ließ kalte Finger über den nicht vorhandenen Pelz fahren; Berge wie schwarzes Glas und Schneeplatten und das blutheiße Geheul in der nach Eis schmeckenden Luft …). Doch die Heimat lockt. Sie holt dich zurück, sagt dir, dass du dort nicht hingehörst. Sie haben Wolfgang zwanzig Meilen außerhalb von Berlin erwischt.
Ellis hat ihm den Kopf abgeschnitten
. Der Tod eines geliebten Menschen lässt alles brutal lebendig erscheinen: Wolken, Straßenecken, Gesichter, Werbespots. Du erträgst es, weil andere deinen Kummer teilen. Stirbt eine Spezies aus, bleibt keiner zurück. Du bist allein mit all den unheimlich erneuerten Einzelheiten.
    Ich streckte die Zunge heraus, wollte die kalten, fallenden Flocken schmecken, und bekam eine erste Vorstellung von dem Gewicht, das mir die Welt für die noch verbleibende Zeit aufbürden würde, die ungeheure Menge an Details, das unnachgiebige, sinnlose Beharren. Wieder konnte ich es nicht ertragen, darüber nachzudenken. Das also würde mich peinigen: Alles, worüber ich nicht nachdenken wollte, würde alle Kraft darauf verwenden, mich dazu zu zwingen, darüber nachzudenken.
    Ich zündete mir eine Zigarette an und konzentrierte mich. Zurück zur praktischen Seite: zu Fuß zur Gloucester Road. Circle Line nach Farringdon. Zehn Minuten Fußmarsch zum Zetter, wo Madeline, Gott segne ihren käuflichen Charme, auf mich wartete. Ich zog mir die Mütze über die Ohren und machte mich auf den Weg.
    »Grainer will das Monster, nicht den Mann«, hatte Harley gesagt. »Du hast noch Zeit.« Ich zweifelte nicht daran. Es waren noch siebenundzwanzig Tage bis zum nächsten Vollmond, und dank Harleys Einmischung ging WOKOP immer noch davon aus, dass ich in Paris war. Trotz des wachsenden Eindrucks –
das ist Verfolgungswahn, das bildest du dir nur ein
 –, dass mir jemand auf den Fersen war, hielt mich dieses Wissen für ein paar Minuten aufrecht.
    Als ich in die Cromwell Road bog, hatte alles Leugnen keinen Sinn mehr, ich musste mich
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