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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf
Autoren: Glen Duncan
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laut nach. Würden wir uns waffenlos gegenüberstehen, dann hätte diese Marionette keine drei Sekunden mehr, doch dazu würde es, so schien mir, nicht kommen. Zwischen hier und der Kreuzung mit der Collingham Road in fünfundzwanzig Metern Entfernung gab es Deckung, vier Wagen waren an meiner Straßenseite abgestellt oder aufgegeben worden, und an der Ecke standen zwei altmodische Telefonzellen. Riskant. Andererseits bot ich ihm in dem Eingang ein todsicheres Ziel, unbewaffnet, wie ich war.
    In der Zwischenzeit hatten der hübsche junge Herr und seine Wangenknochen die Entfernung zwischen uns beiden halbiert, und er war erneut stehen geblieben. Er runzelte leicht die Stirn, so als habe er vergessen, was er eigentlich vorhatte. Dann hob er träge die linke Hand genau in dem Augenblick, als ich sagen wollte: Was zum Teufel willst du? Er hielt eine . 44 er Magnum mit Schalldämpfer hoch, eine Waffe von derart gewaltigen Ausmaßen, bei der man sich nur schwer vorstellen konnte, dass er die Kraft haben sollte, sie zu heben und zu zielen. Doch der Bursche lächelte – ein großer, sinnlicher Mund mit strahlenden Zähnen in einem knochigen Gesicht, beseelt von mascaraverdunkelten Augen –, hob die Waffe dann überraschend ruhig und langsam und richtete sie auf mich.
    Wenn das Bewusstsein losplappert, macht der Körper einfach weiter. Ohne darüber nachzudenken, beugte ich die Knie zum Sprung (da war er wieder, der große, sinnlose Geist wölfischer Hinterläufe, ein Gefühl zarter, nutzloser Erinnerung); ich streckte die Hände aus, spreizte die Finger, den Kopf voller Geschnatter:
eine Schande die ersten Krokusse nicht mehr zu sehen und wenn es doch ein Leben nach dem Tod gibt aber nein nur so etwas wie der Mund der sich mit Erde füllt dann Nichts –
    Seine Hand – von einer Kugel getroffen – ruckte fort, spie Blut, und die Waffe flog davon. Der Bursche tat simultan einen Schrei und einen Sprung, stolperte zwei Schritte nach vorn, hielt sich das Handgelenk und sank dann im Schnee auf die Knie. Auf seinem Gesicht zeigte sich keineswegs die zu erwartende Maske der Tragödie, sondern so etwas wie verwunderte Enttäuschung, doch während ich zuschaute, klappte ihm der Mund auf und blieb so. Ein pendelnder Spuckefaden (ein Phänomen, dessen sich die moderne Pornographie exklusiv bedient) baumelte an seiner Unterlippe, wurde länger, riss, fiel. Die Kugel war ihm durch die Handfläche geschlagen, was bedeutete, dass nur die oberflächlichen Adern bluteten. Falls der Mittelnerv verletzt war, konnte es zu bleibenden Schäden kommen, doch bei den heutigen Koryphäen in der Chirurgie bezweifelte ich das. Der Bursche hockte sich auf die Fersen und sah sich unsicher um, so als habe er seinen Hut verloren. Die Magnum hätte genauso gut auch eine Kippe sein können, so wenig kümmerte er sich um sie.
    Die Botschaft des Scharfschützen war deutlich: Wenn ich die Hand unseres Freundes von hier aus treffen kann, dann hätte ich
dich
jederzeit erledigen können. Es war fast so, als hätten wir eine Unterhaltung geführt, und er oder sie hätte das gerade leise gesagt.
    »Wer sind Sie?«, fragte ich den jungen Mann.
    Er gab keine Antwort, stand nur traurig auf und drückte den linken Unterarm an sich. Der Schmerz würde den Arm in etwas Großes, Heißes, Unerträgliches verwandeln. Mühsam beugte sich der Bursche vor, nahm die Magnum, steckte sie zurück in die Manteltasche. Dann wandte er sich ab, ohne ein Wort zu sagen oder mich auch nur anzuschauen, und trottete davon.
    Ich zweifelte nicht an meiner Deutung, meiner Risikoabwägung, meiner zeitweiligen Sicherheit, doch die ersten Schritte aus dem Schutz des Eingangs heraus waren blanke Willensanstrengung. Ich tat drei Schritte, blieb stehen, stellte mir den Scharfschützen vor, wie er durch sein Zielfernrohr sah, und da jedes gemeinsame Verständnis eine gewisse Freude bereitet, lächelte ich. Mein Rücken wartete darauf, dass eine Silberkugel durch den sauberen kalten Raum hinter mir angeflogen kam. Der Geruch des fallenden Schnees war ein Geschenk, obwohl ich mir sicher war, dass meine Kleidung den ekligen Gestank des Hauseingangs nach alter Pisse angenommen hatte. Ich tat weitere vier Schritte, fünf, sechs … zehn. Nichts geschah.
    Die Wärme, beobachtet zu werden, verließ mich nicht, aber ich kam ohne weiteren Zwischenfall zur Gloucester Road und nahm die letzte Bahn der Circle Line nach Farringdon.
    Während ich unterwegs war, rief Harley an und hinterließ eine Nachricht.
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