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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf
Autoren: Glen Duncan
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der drohenden Tatsache stellen: Ich
wurde
verfolgt.
    Reiner Verfolgungswahn
, fing ich wieder an, doch die Litanei hatte ihre Wirkung verloren. Von hinten drängte sich eine warme Andeutung auf, wo nur ununterbrochene Kälte hätte herrschen sollen: Überwachung. Schnee und Gebäude schwollen wie zur drängenden Bestätigung molekular an:
Sie haben dich gefunden. Es ist so weit.
    Adrenalin interessiert sich nicht für Lebensüberdruss. Das Adrenalin drängt trotzdem durch jede menschliche Faser, und in meinem Fall auch durch die wölfischen Reste, jene Überbleibsel der Kreatur, die trotz der Umwandlung nicht ganz von mir gewichen waren. Phantomwolfsenergien und deren menschliche Äquivalente zuckten und rülpsten unter der Schädeldecke, in Schultern, Handgelenken, Knien. Meine Blase kribbelte wie im zu schnellen Abstieg eines Riesenrads. Absurderweise war ich wegen des knietiefen Schnees nicht in der Lage, schneller zu gehen. Harley hatte noch versucht, mir vor dem Abschied eine Smith&Wesson-Automatik aufzudrängen, doch ich hatte sie lachend abgelehnt. Sei doch nicht so eine Oma. Ich stellte mir vor, wie er mich jetzt auf einem Überwachungsmonitor beobachtete und sagte: ›Ja, Harley, die Oma. Ich hoffe, du bist glücklich, Marlowe, du verdammter Idiot.‹
    Ich warf die Zigarette fort und stopfte die Hände in die Manteltaschen. Ich musste Harley warnen. Wenn die Jagdgesellschaft mich verfolgte, dann wusste sie auch, wo ich gerade gewesen war. Das Haus in Earl’s Court war nicht auf Harleys Namen eingetragen (sondern verbarg sich hinter der Fassade, für das es am besten ausgestattet war, einer elitären Buchhandlung für seltene Bücher) und war bis dato sicher gewesen. Doch wenn die WOKOP es entdeckt hatte, dann war Harley – seit fast fünfzig Jahren mein Doppelagent, mein Ausputzer, meine Familie, mein Freund – vielleicht schon tot.
    Wenn, dann … wenn, dann …
Genau das bin ich leid, diese endlose Logik, mal abgesehen von den Mühen der monatlichen Veränderung, von der unendlichen Langeweile, ein Werwolf zu sein. Es gibt einen Grund, warum die Menschen mit etwa achtzig abtreten: simple Erschöpfung. Es sieht zwar aus wie Organversagen oder Krebs oder Hirnschlag, aber eigentlich ist es die Unfähigkeit, sich weiter über die Holperstrecke aus banaler Ursache und Wirkung zu quälen. Wenn wir Sheila einladen, können wir Ron nicht einladen. Wenn wir jetzt Bückling essen, dann gibt es zum Abendbrot Quiche. Achtzig Jahre, länger kann man all die Wenns und Danns nicht aushalten. Demenz ist die ganz gesunde Einsicht in die Tatsache, dass du mit all dem nichts mehr zu schaffen haben willst.
    Mein Gesicht war heiß und wund. Die Tonstudiostille des Schneefalls ließ kleine Geräusche deutlich hervortreten: Jemand öffnete eine Dose Bier; ein Rülpser; eine Geldbörse schnappte zu. Auf der anderen Straßenseite gerieten drei betrunkene junge Männer in ein Handgemenge. Ein Taxifahrer, der sich in eine schottengemusterte Wolldecke gehüllt hatte, stand neben der offenen Tür seines Wagens und meckerte in ein Handy. Vor dem Flamingo beaufsichtigten zwei Türsteher mit Kosakenmützen eine Schlange zitternder Clubgäste.
Geht doch nichts über das Blut und Fleisch von Jungen. Da schmeckt man noch den Wagemut der Hoffnung
. Auch nach dem Fluch schossen solche Gedanken immer noch in die Höhe wie die unpassenden Erektionen des Heranwachsenden. Ich überquerte die Straße, stellte mich am Ende der Schlange an, bemerkte mit buddhistischer Gelassenheit die dumpfe Saftigkeit der drei dürftig bekleideten, drallen Mädchen vor mir und rief Harley auf dem sicheren Handy an. Nach dreimaligem Klingeln hob er ab.
    »Ich werde verfolgt«, erklärte ich ihm. »Du musst verschwinden. Das Haus ist nicht sicher.«
    Die zu erwartende Verzögerung. Er war wohl betrunken eingedöst, das Handy in der Hand auf Vibrieren geschaltet. Ich konnte mir vorstellen, wie er sich zerknautscht aus der Couch hochmühte, wie ihm die Haare zu Berge standen, wie er zittrig nach einer Gauloise griff. »Harley? Hast du gehört? Das Haus ist nicht mehr sicher. Geh raus, tauch unter.«
    »Bist du sicher?«
    »Bin ich, ja. Vergeude keine Zeit.«
    »Aber die wissen doch gar nicht, dass du
hier
bist. Ganz bestimmt nicht. Ich hab die Aufklärungsdaten selbst gesehen. Scheiße, den Großteil davon hab ich selbst
geschrieben
. Jake?«
    Unmöglich, in dem Schneefall meinen Fußspuren zu folgen. Wenn der Verfolger gesehen hatte, wie ich die Straße
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