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Raniels Engelwelt

Raniels Engelwelt

Titel: Raniels Engelwelt
Autoren: Jason Dark
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Kevin Frost stand auf der Brücke. Hier fegte der Wind besonders stark. Er zerrte an seiner Kleidung und ließ die Haare flattern. Da sie sehr lang waren, fuhren sie auch hin und wieder über seine Augen hinweg. Sobald der Blick frei war, schaute er in die Dunkelheit, sah die nächtliche Kulisse der Stadt – all die falschen Lichter –, doch er befand sich trotzdem an einer recht einsamen Stelle, die dennoch für den Verkehr wichtig war.
    Unter ihm lag die Tiefe. Kein Abgrund, der ins Bodenlose führte. Er endete dort, wo die beiden schwach glänzenden Bahnen herliefen. Flankiert von Dämmen, auf dem Gestrüpp wuchs, in das sich die schmalen Blätter der hohen Gräser hineingeschoben hatten.
    Er schaute gegen die Schienen. Er stand über einer Zugstrecke, die auch in der Nacht befahren wurde. Nicht von den schnellen Personenzügen, hier rollten die Güterzüge über die Gleise. Waren aller Art wurden transportiert. Die Nacht war dafür besonders geeignet.
    Es fuhren trotzdem Züge, und Kevin Frost kannte die Zeiten sehr genau. Es wusste auch, dass sie eingehalten wurden, und deshalb war ihm klar, dass er nicht viel Zeit hatte.
    Die Stimme war nicht mehr zu hören. Dennoch glaubte er nicht daran, dass ihn der Engel verlassen hatte. Er ließ einen Menschen nicht im Stich. Er wartete an der Tür zum Paradies, um ihn einzulassen. Danach würde er all die Freuden erleben, die er sich erträumt hatte.
    Das Geländer vor ihm war nicht besonders hoch. Beide Hände hatte er darauf gelegt. Wenn er hinaufstieg, gab es nichts mehr, an dem er sich festhalten konnte. Dann war alles vorbei. Keine Querstrebe in seiner Nähe, kein Balken, einfach nichts.
    Er würde für eine kurze Zeitspanne darauf seinen Platz finden können, um dann nach vorn zu fallen, in die Tiefe. Auf die Schienen prallen und dabei direkt vor den heranfahrenden Zug, dessen Führer nicht mehr würde bremsen können.
    Er hatte sich auf den kurzen Moment des Aufpralls innerlich vorbereitet. Vielleicht würde er ihn noch erleben, aber die schwere Maschine war sofort da, um sein Leben auszulöschen.
    Sein altes Leben – aber das neue würde kommen. Der Engel hatte es ihm versprochen. Er selbst hatte ihn nicht gesehen, doch er steckte voller Vertrauen.
    Er hatte die Sitzungen erlebt. Die Botschaften vernommen. Die Menschen gesehen, die ebenso dachten wie er. Letztendlich wollte sie alle ins Paradies, das ihnen zustand.
    Kevin Frost hob den Kopf langsam wieder an. Sein Blick glitt jetzt nach vorn und über die beiden Schienenstränge hinweg. Er verlor sich in der Dunkelheit. Lichter waren über der Spur nicht zu sehen. Die Schienen kamen aus dem Dunkel, und sie verschwanden wieder darin. Er hatte das Gefühl, in einem Stück Niemandsland zu stehen, das nicht mal auf dieser Welt lag.
    Während seiner Fahrt zu diesem Ziel hatte der Wind sehr stark und auch permanent geweht. Das war nicht mehr der Fall. Er fuhr jetzt in Böen heran, sodass der einsame Mann stets das Gefühl erhielt, von den Böen geschlagen zu werden.
    Zum Himmel schaute er nicht hoch. Dort wurden die Wolken von den Böen gejagt. Ständig wechselten die Muster, als wäre ein Maler dabei, die eigenen Motive immer wieder neu zu erfinden.
    Frost blickte auf seine Uhr.
    Noch drei Minuten bis zum Ende!
    Natürlich nur, wenn der Zug pünktlich seine Strecke fuhr. Daran glaubte er, denn er hatte schon öfter an dieser Stelle gestanden. Daher wusste er auch, dass die Brücke nur wenig befahren war. Er hätte längst springen können, aber da war die Zeit noch nicht reif gewesen.
    Und jetzt?
    Ein Zurück gab es für ihn nicht mehr. Er würde auf das Geländer klettern und sich fallen lassen.
    Frost riss den Mund auf. Er atmete tief ein. Auch deshalb, weil er den innere Druck loswerden wollte. Ein Zittern konnte er nicht vermeiden. Er war kein Roboter, sondern ein Mensch mit Gefühlen, der dicht davor stand, in das Paradies zu gehen.
    Es war für ihn bereit. Er würde einer der wenigen Menschen sein, die die Welt der Engel kennen lernte, und genau das war es, das ihn trotz aller Angst mit großer Freude erfüllte.
    Den eigenen Herzschlag hörte er trotz der wilden Geräusche, die ihn manchmal umgaben. Auf seiner Stirn entstand immer wieder der kalte Schweiß, der allerdings sehr schnell durch den Wind getrocknet wurde. Auch seine Lippen waren trocken. Sie fühlten sich rissig an. Der Wind trieb ihm zudem Tränen in die Augen.
    Er schaute wieder auf die Uhr.
    Keine zwei Minuten mehr!
    Ja, die Zeit rückte näher.
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