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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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    F RANKFURT AM M AIN
— September 1910 —
    »Infanterie, Achtung!«, gellte die Stimme. »Los, los, los, los! Sturmangriff! Mann gegen Mann!«
    Der Sedantag war ein Feiertag – nicht amtlich festgesetzt, aber von der Schulbehörde begrüßt und gefördert. Alle Jahre wieder wurde der Tag gefeiert, an dem Napoleon III. in Sedan kapituliert hatte – mit Paraden, Gedenkveranstaltungen, Schulfeiern und Volksbelustigungen. Am Gymnasium, das Ludwig besuchte, war daraus der »Manövertag« geworden, dem alle entgegenfieberten. Seit über vierzig Jahren hatte die deutsche Jugend nicht mehr das Glück gehabt, an einem Kampf teilzunehmen, der das Wort heroisch verdient hätte. Doch wenn die Jungen die Schlacht von Sedan nachspielten, genossen sie die Illusion, sie seien an diesem ruhmreichen Sieg von 1870 beteiligt.
    Für den »Manövertag« wurde eine Nebenstraße in der Nähe der Schule von vier Gendarmen eigens abgesperrt. Die Jungen wurden aufgeteilt in zwei Lager und gingen mit hölzernen Stöcken aufeinander los, die als Gewehre, Säbel und Bajonette zugleich dienen mussten. Aus der Ferne schauten die Lehrer zu, denn der Krieg musste ritterlich verlaufen, nach festen Regeln. Manchmal achtete Dr.Stegemann persönlich darauf, dass die Schlacht militärisch einwandfrei verlief. Wann greift die Infanterie an? Wann die Kavallerie (die von fußtrappelnden Tertianern dargestellt wurde)? Wann setzte der berühmte Rechtsschwenk hinter der feindlichen Front ein? Wann ist es so weit, dass der Feind sich ergibt? Es war herrlich, die Schlacht von Sedan nachzuspielen. Immer wieder dieselbe Schlacht gegen den historischen Erbfeind im Westen.
    Auch Ludwig liebte diesen Manövertag. Sich hier draußen an der frischen Luft dem Gegner zu stellen erregte die Nerven und weckte die besten Instinkte. Das Leben war Kampf, und der Kampf fürs Vaterland war das Heiligste, was er sich vorstellen konnte. Allerdings hatte die Sache einen mächtigen Haken: Er kämpfte nicht etwa bei den siegreichen »Preußen«, den blonden Bengeln, die jetzt mit Hurrageschrei losrannten. Er musste wieder einmal »Franzose« sein. Das heißt, er musste in der falschen Richtung marschieren, sich einkesseln lassen und sich am Ende »ergeben« – soweit er nicht ohnehin »fiel« und auf dem Kopfsteinpflaster herumliegen musste. Ausgerechnet der dicke Müller, Wilhelm Müller, ging mit seinem Holzgewehr auf ihn los, ein stämmiger Bursche, der aber große Mühe hatte, im Unterricht mitzuhalten, und Ludwig ständig als »Streber« verspottete, weil der bessere Noten hatte und sich gegenüber den Lehrern stets höflich verhielt.
    Eigentlich hätte Ludwig wohl zulassen müssen, dass die »Preußen« ihn überrannten, aber als der dicke Müller sein Holzgewehr allzu triumphierend schwenkte und Miene machte, es ihm in die Brust zu rammen (was äußerst schmerzhaft sein konnte), riss Ludwig, statt sich einfach »niedermachen« zu lassen, seinen eigenen Stock hoch, um sich damit zu schützen. Die Parade kam für Müller so überraschend, dass sein Knüppel ihm aus der Hand flog. Mit offenem Mund blieb er stehen, dann wurde er krebsrot und stürzte sich mit fliegenden Fäusten und Stiefeln auf Ludwig, der von seinem Erfolg so verdutzt war, dass er wie gelähmt stehen blieb.
    Aber noch ehe ernsthafter Schaden entstand, ertönte ein schriller Pfiff. Das gesamte »Schlachtgetümmel« erstarrte. Die »Preußen« blieben stehen wie Zinnsoldaten, die »Franzosen« wurden nicht eingekreist, ergaben sich nicht, wurden auch nicht gefangen genommen. Mit großen Schritten kam Dr. Stegemann, der gefürchtete Rektor der Schule, über das »Schlachtfeld«.
    »Was ist hier los?«, rief er zornig. »Nennt ihr das ritterlich kämpfen?«
    Müller, immer noch erhitzt und in Rage, schrie voller Empörung: »Der Itzig hat sich gewehrt!«
    Jetzt wurde es totenstill auf dem Schlachtfeld. Eine solche Beleidigung durfte der Rektor nicht durchgehen lassen, das spürten nicht nur Ludwig und Müller, sondern auch die anderen Jungen, die um sie herumstanden. Gleich würde ein Donnerwetter erfolgen.
    Aber Dr. Stegemann war nicht umsonst Rektor des hoch angesehenen humanistischen Lessing-Gymnasiums geworden. Er hatte selbst noch als Freiwilliger beim Ersatzbataillon des 82.Regiments am Deutsch-Französischen Krieg und der Belagerung von Paris teilgenommen. Er hatte in Italien und England gelebt, und er wusste, was er sich, der traditionsreichen Schule, der ehemals Freien Stadt Frankfurt und dem
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