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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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und so spurten sie ihm seinen Weg vor. Ein Vergnügen war diese Wanderung in ihrem sachten Auf und Ab, das einen Rhythmus erzeugte, und der verstärkte möglicherweise noch das Gehvergnügen. Und überdies war der Boden der Bombenschüsseln fest und zugleich weich von dem in den bald sieben, acht Jahrzehnten nach dem Abwurf da angesammelten Laub, wovon die Schritte ins Federn kamen. Kein harmonischeres und friedlicheres Auf und Ab als dieses Gehen von Trichter zu Trichter, auf deren Boden das Laub so tief, daß man ohne Zutun dort Stechschritte machte (und so flaumig weich wie sonst nur die Federkleider von Raubvögeln). Fast wollte man ein Kosewort verwenden: »Trichterlein. Bombentrichterlein!« Der Abendtau sammelte sich auf dem Grund viel stärker als anderswo in den Auen, kam ins Fließen, bildete in den Hohlräumen des Laubs kleine rundliche gewölbte Lachen, gut nicht bloß gegen den Durst, und da begegneten ihm auch wieder die Menschenfrösche aus seinem Alten Dorf, am Rand der Abendtaulachen hockten sie zuhauf, die kleinwinzigen Menschenfinger zum Netzen ins Wasser gestreckt.
    Eine Unterbrechung des Rhythmus nur dann bei dem letzten der Bombentrichter: dieser war ungleich größer und vor allem tiefer als die zweihundertachtundvierzig vorigen (er war mit dem Rhythmus ins Zählen geraten, und zweihundertachtundvierzig, das war seine Wäschenummer gewesen, einst im Internat): ein Krater war das, mehr als bloß ein Trichter, bis weit hinab in das Grundwasser, von einer der Mutterbomben aus dem vorläufig letzten Krieg gegen das Land, abgeworfen von niemand Bestimmten mehr, und jedenfalls ohne Tötungswillen – dem war schon zuvor Genüge getan –, eher um die lästige Fluglast, die nach dem gelungenen Angriff weiter südlich, auf die Brücke von Varvarin und die darauf Christi Himmelfahrt feiernden Menschenkinder, noch an Bord geblieben war, zu entsorgen. Es waren naturgemäß – gemäß welcher Natur? (unser Zwischenrufer, doch noch einmal) – wieder brauchbare Gründe gefunden worden für das bemutternde Ausklinken – wer braucht, erfindet.
    Nicht ratsam, diesen Krater zu durchwandern, in dem nach der Detonation der Bombenmutter noch etliche Sohnes- und Tochterbomben, klein, aber oho!, des Explodierens harrten. Lehmklumpen waren durch den Aufschlag seinerzeit aus dem Erdinnern an die entferntesten Baumstämme geschleudert worden und hafteten daran noch immer als Zement, und die mitgeschleuderten Steinbrocken, als Keile durch die Rinden bis in den Splint gedrungen, und inzwischen mit dem Holz verwachsen, auch mit den Bäumen gewachsen, Steine um Steine in den Astgabelungen bis hoch hinauf in den Kronen. Er umkurvte den Krater, bei einem bronzenen Widerschein auf dem Waldboden – wo doch die Sonne längst untergegangen war?
    Und bronzen auch, wo war bloß die Lichtquelle?, der Abglanz auf dem still und schnell dahinströmenden Wasser, als er am Ende seiner Wanderung dann an der Morawa stand. Zu seinen Füßen im Ufergras der heimische Uferigel, auch er mit einem Bronzeschimmer an den Stacheln, und was sagte der? »Ich bin schon da!«? Nein, er sagte: »Ich bin noch da!« Und daß jetzt die Schiffsglocke läutete: in Wirklichkeit? Und der Geißblattduft, den er sonst nur aus Büchern kannte. Was hieß aber »nur«? Er schmiß die Reisetasche in den Fluß, samt allem, was drinnen war (nicht viel). Ja, er würde mit leeren Händen zurückkommen. Und recht so.

 
13
     
    Die Nacht war zuende. Der Autor öffnete die Augen. Hellichter Tag. Morgensonne. Er zog die fremde Frau an sich, doch da war niemand. Dabei hatten sie gerade noch einander umfangen, wie kein Paar je einander umfangen hatte. Liebe? Die Frau hatte ihn spüren lassen, daß sie für ihn war. Was war denn so Besonderes daran? Für ihn war es das Wunder. Und jetzt am Morgen schnappte er nach ihr, lechzte nach ihrem Körper im Leeren. Ja, gab es die Frau denn gar nicht? Doch, sie existierte, außerhalb des Traums, und wie, aber sie gehörte nicht ihm. Ah, der Schmerz über ihre Abwesenheit. Endgültig entzweit war er.
    Und wo waren wir anderen, die nachtlangen Zuhörer auf dem Schiff, der Freund aus Porodin, der Zahnarzt aus Velika Plana, der ehemalige Offizier und nun Champignonzüchter, der Nachwuchsdichter, der arbeitslose Advokat, der arbeitslose Lehrer, der Nachtportier? Auch von uns keine Spur; von einem »wir« keine Rede; der Autor war allein im Salon, nicht einmal der Busnachlaufhund zu seinen Füßen; der Blick nach »uns« in die Runde:
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