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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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Porodin, bei extra weitaufgezogenen Vorhängen, aus dem Schlaf geschreckt worden von einem wie gebieterischen Angeblinktwerden durch die Leuchtschrift fern in den Morawa-Auen, so wie der nächste der Aufschließenden angab, aufgeschreckt zu sein durch ein Signal, das eher von einem Schiff zu kommen schien als von einem Hausboot. Aufgeschreckt? Vielleicht. Aber das war kein gewöhnlicher Schrecken gewesen. Und so oder so war das Wecken ohne Worte vor sich gegangen. Und so oder so: Jeder von uns fühlte sich von dem Rufen hinten am Schopf gepackt, so unsanft wie sanft. Die Telefone hatten nur kurz angeläutet. Und bei dem einen von uns, der, geistesgegenwärtig wie eben allein aus einem gewissen Schlaf heraus, sich schon einen Sekundenbruchteil vorher meldete, kam dann nichts als ein Lachen an, ein sehr kurzes, kaum wahrnehmbares, an der Schwelle zwischen Tiefschlaf und Hellwach, dafür umso klareres, und das hieß, ohne Worte: »Auf!« Melodisch war das Lachen, und es war nicht das Lachen unseres Freundes vom Boot, sondern eindeutig das einer Frau; was den so aus dem Schlaf Gerufenen freilich keineswegs verwunderte. Nichts wunderte ihn in jenem Augenblick und nichts auch dann noch auf dem Weg über die Felder und das Brachland – immer mehr griff, trotz der so fruchtbaren Flußerde und trotz der grenzenlos eingespielten neuen Ökonomie, die Brache um sich – hin zur MORAWISCHEN NACHT. Rein gar nichts wunderte uns alle in dem Moment des Aufwachens lang vor Mitternacht. Und ebenso in der Folgestunde, beim Holpern und Stolpern über Stock und Stein: kein Moment einer Verwunderung. Die Empfindung, die vorherrschte: die einer großen Frische, welche, wie von der Nachtluft draußen, so auch von tief innen her kam; einer umfassenden Frische.
    Die Fußgänger waren die ersten beim Boot. Die mit den Fahrzeugen hatten diese, selbst die Räder, lange vor dem Morawa-Ufer stehenlassen müssen; in der zunehmenden Weglosigkeit, bei sich häufenden Wassergräben und dicken Dornenbarrieren, war kein Weiterkommen. Die an die Dunkelheit gewöhnten Wanderer hatten wenig Mühe mit den Durchschlüpfen und Übergängen, während die Fahrleute noch eine Zeitlang nach dem Ausschalten der Scheinwerfer und Erlöschen der Radlampen sich ziemlich nachtblind vorwärtstasteten. Wenn man es so erzählt, scheint es, daß wir viele waren, eine recht große Zahl, eben eine Kolonne. Aber das täuschte: Solchen Anschein gaben wir bloß so nächtlich im Flußland unterwegs. Wir waren dabei nicht mehr als sechs oder sieben, sozusagen entsprechend den bevorstehenden Stunden, Episoden, Kapiteln der Nacht bis zum Morgenwerden. Die Jahreszeit: nicht lang nach Frühlingsanfang. Das Datum: nicht lang vor dem orthodoxen Osterfest, das in jenem Jahr, zum Unterschied zu früheren Regelungen, mit den paneuropaüblichen Ostern zusammengelegt wurde, was in der Folge auch für die weitere Zukunft gelten sollte. Mondstand: Neumond. Wind: leichter Nachtwind, verstärkt in Flußnähe. Wolkenfelder langsam von West nach Ost treibend. Erste Sommersternbilder, die gegen Ende der Nacht dann noch für eine kleine Stunde den Blick auf den Orion und ein paar andere letzte Wintersternbilder ließen.
    Entgegen der einen oder anderen Erwartung empfing uns der ehemalige Autor auf seinem Haus- und Fluchtboot allein. Ebenso zeigte er sich, entgegen mancher Erwartung oder Befürchtung, gesund und, wie man früher einmal gesagt hätte, wohlauf; nicht gerade springlebendig, aber doch fest auf seinen beiden Beinen (während er in der Zeit seines Autorentums, eine damals typische Haltung für ihn, ständig von einem Bein auf das andere getreten war, was freilich »nichts hieß, alle Leute daheim im Dorf haben das so gemacht, von den Kindesbeinen an«); und in seinem stillen Dastehen, besonders nach all dem, was dem und jenem Herbeigerufenen von seiner Rundreise, Daura, und etappenweise auch Rundflucht, und etappenweise auch Irrfahrt, und etappenweise auch seiner Todesfahrt, und etappenweise auch seinem Amoklauf durch seine Heimat Europa zu Ohren gekommen war.
    So ziemlich der allgemeinen Erwartung dagegen entsprach es, daß der Gastgeber sich so gar nicht über das Eintreffen seiner Gäste zu freuen schien. Kein Sterbenswörtchen einer Begrüßung ließ sich hören von der Silhouette dort oben an der Reling unterhalb der dabei so einladend leuchtenden MORAWISCHEN NACHT. Keine, und wenn auch bloß angedeutete, Handbewegung, die unser inzwischen vollzählig am verstruppten Ufer
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