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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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versammeltes Fähnlein auf das Boot gewinkt hätte. Zwar lag da auf der Kante etwas wie ein Brett, das Boot und Festland irgendwie miteinander verband. Doch das war so schmal und zudem derart steilgestellt, daß wir wie auf einer Hühnerleiter, und auf allen vieren, uns da emporhangeln mußten, einer nach dem anderen, das Brett hin und her rutschend, und wir ständig zurückrutschend; und versteht sich auch, daß er keinem von uns die Hand entgegenstreckte, um ihn etwa an Deck zu hieven oder, bewahre, ihn willkommen zu heißen. Bemerkenswert vielleicht auch, daß er uns anfangs sogar auf dem Boot recht lange alleingelassen hatte und erst später zu uns trat, wer weiß von wo.
    Obwohl er uns doch hatte rufen lassen, war es, als ob wir ihn jetzt störten. Unser Kommen schien ihn nicht nur nicht zu freuen. Es war ihm nicht recht. Er war dagegen. Wir waren unerwünscht; Eindringlinge; Flußpiraten. Zwar hatten wir das ja erwartet, waren an anscheinend mangelnde Gastfreundschaft, so rüde im Widerspruch zu den altbewährten Balkansitten, gleichsam gewöhnt. Und doch stieß sie uns in jener Nacht vor den Kopf, zumal er uns – sein erstes Wort dann, nach langem starrem Nicht-Sprechen – anfuhr wegen unsrer »servilen Pünktlichkeit«, unserer »Vorhersehbarkeit«. Und als nächstes schaltete er die Leuchtschrift aus, so daß wir auf dem Boot eine Zeitlang völlig im Dunkel standen. Und ebenso verstummte die balkanische Musik, die zumindest einige von uns, zugegeben, mit an Bord gelockt hatte. Statt dessen nichts als das schädelsprengende Froschkonzert aus den Uferbüschen der Morawa, das nachtlang andauern sollte, und, als einziges anderes Geräusch, das Geheul der Lastwagen auf der Autobahn bei Velika Plana, ebenso unausgesetzt nachtlang: der Güterfernverkehr, nicht bloß in die Türkei und in die Gegenrichtung, sondern überhaupt zwischen den Kontinenten, toste in der Zwischenzeit ja ohne auch nur eine einzige Sekunde einer Ruhepause.
    Als wir uns an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckten einige noch etwas Unerwartetes an dem Hausbootsherrn: Er wiegte zu dem Geknarr der Froschmyriaden den Kopf, und das, wenn auch ferne, Tosen und Röhren der Warentransporter begleitete er mit einem Summen, das geradezu auf eine Melodie aus schien. Neu war das, weil wir niemand Geräuschempfindlicheren kannten als ihn da. Hatte nicht zuletzt schon ein jähes Windsausen, ein auch noch so leichtes, genügt, und er war zusammengefahren wie bei einer Feindberührung? Und ob es einzig zum Scherz war, wenn er ständig wiederholte, er habe das Schreiben sein lassen auch aus zunehmendem Widerwillen gegen die Geräusche, gleichwelche? Ein jedes Geräusch habe er mit der Zeit als Krach empfunden, als Lärm, bösartigen. Selbst die Musik? Auch die, gerade die, die von Claudio Monteverdi genauso wie die von Franz Schubert. Und nach dem Windsausen und dem Blätterrauschen, den beiden ihm vorzeiten nicht nur liebsten, sondern ihn auch immer neu »mit einer unbestimmten Liebe« erfüllenden Geräuschen, sei ihm dann ganz zuletzt das dritte, das den zwei anderen, in seinen Ohren jedenfalls, gleichgestimmte Geräusch zuwider geworden, das Rascheln, das so rhythmische wie melodische, seines Bleistifts in der Stille. Konnte seine offenbar veränderte Einstellung zur Geräuschwelt ein Ergebnis seiner Teilnahme an dem Internationalen Kongreß über »Akustik der Stille und Akustik des Schalls« sein, dem, wie einer von uns, sein Begleiter dorthin, wußte, eine der Etappen seiner Rundreise gegolten hatte?
    Nur Männer waren wir, die nachts auf das Boot Gerufenen; die er dann, das wiederum erwartungsgemäß, hieß, die Schuhe auszuziehen, wie sonst für das Besteigen einer Ozeanjacht. Aber auch vor einer Frau, gleichwelcher: er hätte mit dem Befehl nicht gezögert. Dabei sprach er mit einer sonderbar leisen Stimme, anders leise als sonst. Zwar waren wir seit langem seine Vertrauten. Und doch begriffen nicht alle von uns sofort, daß er damit auch uns zu einem ebenso gedämpften Reden anstecken wollte. Er mußte es denen ausdrücklich flüstern: »Leise! Leise!« Klar wurde da einem jeden, daß das Vermeidensollen des Brusttons in jener Nacht weder ein Tick des Gastgebers noch Teil irgendwelcher Etikette war, vielmehr aus einer Gefahr kam. Mit einem Schlag wußten wir sämtlich um die Gefahr, wenngleich auch nicht, welche, was für eine im besonderen. Zu spüren war jäh: die Gefahr »Gefahr«. Und nicht, daß wir nun etwa wie er zu flüstern anfingen:
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