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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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hinein. Ein Spatz badete in einem Sandloch, und er badete mit. Ein Kiesel rollte unten in der Strömung eines Wildbachs, und er rollte mit. War es tatsächlich ein Sichverschauen, ein Sichverlieren? Eher war das jeweils ein Schauen, aus dem, nach und nach, ein Übergehen in das Angeschaute wurde – worin er sich nicht verlor, im Gegenteil: übergegangen ins Angeschaute, ging dieses über auf ihn. Kaum je allerdings hatte er bisher solch einen Übergang angesichts von Menschen erlebt, höchstens vor seinen jüngeren Geschwistern, und auch nur, wenn er ihnen beim Schlafen zuschaute. Der Mann hinter ihm war der erste Fremde, mit dem ihm etwas dergleichen zustieß, und der Junge konnte nicht einmal sagen, warum er gerade bei dem so ganz Teilnahme wurde, wo doch an ihm nichts teilzunehmen war, schon gar nicht an seinem Gesten- und Mienenspiel. Wie auch immer: Das Fast-noch-Kind wurde in den Augenblicken des Übergehens auf den anderen, wo es zuletzt ganz dieser andere wurde, überrieselt von etwas, das, so oder so, sein Leben bestimmen würde.
    Da hatte in der allmählich sich lichtenden Flußnacht, versteht sich, schon seit einigen Sätzen wieder der Bootsherr das Erzählen übernommen. Er hatte den Jungen unterbrochen, aber liebevoll, geradezu enthusiastisch. Und so fuhr er fort: An der Art, wie der junge Mensch im Bus ihn anschaute, an der »Osmose«, die da geschah an Leib und an Seele, hatte er, der abgedankte Autor, den zukünftigen erkannt. Der da derart ins Schauen kam bis zur vollkommenen und selbstvergessenen Teilnahme, und zwar unvorsätzlich und unwillkürlich, das war einer aus dem Nachwuchs. Den Nachwuchs für den Beruf, den gab es also noch, wer hätte das gedacht! Platz frei für den Nachwuchsspieler! Und daß der sich nicht etwa drückte vor dem, was ihm, und das nicht bloß für die eine oder andere Saison, sondern für sein ganzes Leben lang, noch bevorstünde! Sinnlos eine jede Ausflucht in einen anderen Beruf, in gleichwelchen: Wenn überhaupt etwas, konnte er nur das werden, ausüben und immer weiterüben, was sein Ureigenes oder, frei nach Jakob Böhme, sein Urstand war, oder, mit wieder anderen Worten, sein schönes und schreckliches Problem. Willkommen, Nachfolger, Wiederholer, Meldegänger. Sei gegrüßt, kleiner Bruder, mütterliches Kind. Hallo, neuer In-die-Luft-Schreiber, Neuwürfler, Frischbuchstabierer, Altes Haus, altes Haus. Und fürchte dich nicht: du bist es. Und fürchte dich: du bist es.

 
12
     
    Die Enklave Porodin gab es nicht mehr. Mit ihr war die letzte Enklave auf dem Balkan, und überhaupt in Europa, verschwunden, oder »desenklavisiert«. Nur er, der Heimkehrer, hatte das nicht gewußt – wir anderen waren längst an die veränderte Lage gewöhnt. Es hatte ja auch so kommen müssen. Es war der Lauf der Dinge, und der war, was Porodin anging, im großen und ganzen sogar friedlich, und die Änderungen waren nicht mit einem Schlag eingetreten, sondern ganz allmählich, beinahe unmerklich. Nur ihn, nach seiner, so dachten wenigstens einige von uns, »sträflich langen« Abwesenheit, sprangen sie leibhaftig an.
    Es war ein sommerlich warmer Abend, als der Bus in Porodin ankam, und es würde noch lange hell bleiben. Auffällig schon, daß das Ortsschild in lateinischer Schrift war, und nicht mehr in der kyrillischen, »PORODIN« statt ПОРОДИН . Wieder ein Autor hatte einmal auf die Zeitungsfrage, welche Dinge ihm zuwider seien, unter anderem die kyrillische Schrift genannt, und das konnte man ihm nach dem, was ihm, seinem Volk und seinem Land unter dem Banner dieser Schrift widerfahren war, auch nachfühlen. Mit Porodin freilich war das etwas anderes, oder? Das Kyrillische hatte zwar, und ob, eine Bedeutung, aber nicht die bewußte, oder?
    Was ihn bei der Ankunft sonst ansprang, war vor allem das, was nicht mehr da war, und was zuvor die Enklave ausgemacht hatte. Erfreulich: keine Stacheldrahtrollen mehr gleich an den Ortsrändern und rund um die zum Ort gehörigen Felder und Weingärten; auch das Fehlen der Panzerrohre allerwärts im Halbkreis auf den Hügeln, der kaum höher als die Pappeln den Luftraum durchdonnernden Überraschungsflieger, der Schilder an den Gasthaustüren mit den durchkreuzten Pistolen. Waffenlos und unüberwacht, frei zugänglich der ganze Ort, keine Steine auch mehr vor der Einfahrt gegen die Busfenster, höchstens noch ein paar mehr alteingespielte als bösgemeinte Kußhände. Hatte er gesagt: Weingärten? Auch die gab es nicht mehr. Sie hatten
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