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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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PROLOG
    I ch saß da, in eine Decke eingehüllt, und fror. Ich war schläfrig. Die Zeitverschiebung. Mein Körper war schon zurück, mein Geist noch in Tagträumen gefangen. Was hatte ich erlebt? Die verblassenden Szenen, die noch vor wenigen Augenblicken in der Erinnerung an mir vorbeigezogen waren, lösten sich auf und formten sich neu, denn jenseits von Ahnen und Begreifen wird die Welt unablässig wiedergeboren. Nichts kann diese Vorwärtsbewegung aufhalten, die vergessene Ereignisse gegenwärtig macht. Das einst Erlebte, aus welcher Ferne es auch kommen mag, kann wieder klar gesehen werden. Der alte Mönch kannte das Geheimnis und hielt nach der Vergangenheit Ausschau. Er sah die Dinge kristallklar und unglaublich leuchtend, weil sie in seiner Erinnerung nie verblasst waren. »Das kannst du auch«, hatte er mir mit großem Nachdruck eingeschärft. Es sei keine durch Anstrengung erworbene Kraft. Was für ihn selbst gut sei, genüge auch für mich. Ich hatte ihm zuerst nicht geglaubt, wieso auch? Jetzt aber ging ich mit weichen Knien meine Handtasche holen und zog das Bild, das Lhamo mir in Lhasa gegeben hatte, aus dem Umschlag. Mein Großvater hatte das Haus mit einer Rolleiflex fotografiert. Ich wusste, dass er eine eigene Dunkelkammer hatte und die Filme selbst entwickelte. Alte Bilder ziehen sich in sich selbst zurück, wie alte Menschen es tun; alte Bilder sterben. Der Mönch, dessen Namen ich nie erfahren hatte, brauchte kein Bild, um Buddha zu sehen. Er erträumte sich, was er brauchte, rief im Geist die Erinnerungen wach. Es war ein Akt der Wiederbelebung.

    Was hatte Lhamo gesagt? Dass sie das Bild seit vielen Jahren nicht mehr angesehen hatte. Seltsam. Woher kamen dann die Fingerabdrücke? Warum fühlten sich Lhamos Hände damals so schwer an, so schwer wie Stein? Sie hatte nur das Bild zu geben gehabt und hatte es mir gegeben. Für alles, was ich ihr hätte geben können, sah sie keine Verwendung mehr. Ich legte das Foto vor mich auf den Tisch und betrachtete das Haus. Ich betrachtete es lange, eindringlich, prägte mir jede Einzelheit ein. Ich fühlte dabei eine Art Vakuum in mir, eine Übelkeit. Einst war das Haus groß und prächtig und voller Leben gewesen. Auch jetzt war es noch nicht tot. Das Haus schwebte in einem Anderswo, das ganz nahe war. Einem Anderswo, das vibrierte. Ich konzentrierte meine Vorstellungskraft. Viele Leute wären gewiss fähig, ein solches Haus zum Leben zu erwecken, vorausgesetzt, sie wüssten, dass sie es könnten. Weil es bei einer Wiederbelebung nicht um mehr oder weniger Kraft ging, nicht um Willensstärke. Der Mönch wusste genau, worum es ging. Um etwas ganz anderes, nämlich um das, was die Menschen Glauben nennen. Einen Bewusstseinszustand, der frei von Gedanken oder Gemütsbewegungen irgendwelcher Art ist. Das Bild zeigte nur ein kleines Teilchen der Vergangenheit, aber wo so ein Bild ist, rührt sein Anblick an Tiefen, die wir nur mit den Tiefen vergleichen können, wie sie ein Symphonieorchester in uns öffnet, wenn wir die Musik kennen, verstehen und lieben. Beharrlich arbeitete ich mich in die Sache hinein, starrte auf das Bild. Ich konnte hören, wie ich atmete, schnell und kurz. Warum hatte ich Schmerzen im Rückgrat? Warum saß ich schon so lange unbeweglich da mit dem Bedürfnis, mich zu kratzen und auf die Toilette zu gehen? Man kann ein Bild anschauen, man kann es nicht bewohnen. Man kann nur verrückt dabei werden, das wird es wohl sein. Oder auch nicht?
    Und mit einem Mal fuhr ich auf, mit einem seltsamen Zucken im Nacken, als ob eine Schnur riss. Klack! Mir war, als ob
das Foto in meinen Händen zurückschnellte, als ob das Haus sich - leicht schwankend - aufrichtete und vergrößerte. Die Wände strebten seitwärts empor, gewannen an Form, festigten sich. Tatsächlich kam es auf die Beharrlichkeit an, alles Erträumte war nur eine Sache der Geduld. Noch eine kleine Anstrengung - sie war nicht der Rede wert! Ich fühlte einen Schauder voraus, der kein Schauder der Angst war. Das Abgelebte würde aufleben und wieder ablaufen, wie es gewesen war. Dass alles der Wahrheit entsprechen würde, stand außer Zweifel. Weil der Schein nicht weniger als das Wirkliche war, sondern mehr. Weil ich die Erinnerung im Blut trug und auch die Gerüche nach Staub, Holzkohle und schwitzenden Pferden und ebenfalls das Gelächter, die Satzfetzen, das Klappern von Pferdegeschirr. Ich hörte auch Musik, oder nicht? Doch, sie kam aus einem der Erkerfenster. Und wenn ich meine
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