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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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sich erübrigt; es war niemand da, sie zu pflegen; die paar restlichen Rebstöcke waren vertrocknet oder verkohlt; oder die Gärten waren überhaupt gerodet worden und hatten einem Golfterrain Platz gemacht – die vielen Mulden, die den Wein gegen den Wind geschützt hatten, waren wie geschaffen fürs Golfspielen. Außerdem war der Wein, so schwer wie erztrübe, ohnedies nur für den Hausgebrauch geeignet gewesen. Und die himmelanweidenden Schafe? Keine Spur mehr von ihnen, nicht einmal die Trittspuren. Und die örtlichen Idioten? Aus dem Bild.
    Jede Enklave, auch die von Porodin, mit der er angeblich einmal »sein Schicksal verknüpft« hatte (Melchior), bedeutete ihm nichts gegen das Unbekannte. In eine Gegend zu geraten, in der jeder Schritt tiefer ins märchenhaft Unbekannte führte: nichts ging darüber. Ah, das große Unbekannte, mit den nie gesehenen Farben, den unerhörten Geräuschen. Was er auf dem Weg durch den Ort sah, angefangen vom verglasten neuen Busbahnhof – für eine Abfahrt und eine Ankunft pro Tag –, mit den aufgeklebten Vogelsilhouetten überall an den Scheiben, kam ihm freilich ziemlich bekannt vor. Ein fremder Anblick wären zur Zeit der Enklave etwa die vielen Läufer gewesen, sämtlich mit Namensschildern, wie für eine Dauerkonferenz, im weltweit üblichen Aufzug, fremd selbst ein einziger, der durch das müßiggehende oder -sitzende Enklavenvolk gekurvt wäre – jetzt nicht mehr. Das Schuhzeug und die Kleider, nicht bloß der Läufer: die international bekannten großen Marken (mochten die auch gefälscht sein). Die früheren Hühnerhöfe zu starkgrünen Rasenflächen geworden, so kurzrasiert wie nicht einmal in Wimbledon, und da und dort in der Mitte ein marmoreingefaßter Springbrunnen. Ein einzelner Truthahn wenigstens stolzierte in einem Hofrest über den nackten Erdboden, immer im Kreis, blieb dabei aber stumm, kollerte nicht los, zu hören von ihm allein das Gefieder, welches an ihm herabhing und mit seinen harten Federn Schritt für Schritt über den Sand schleifte, mit dem Geräusch eines Stahlbesens. Die Enklavengeräusche und vor allem -gerüche: Es war einmal? Dafür das ständige Alarmschrillen aus den geparkten fabrikneuen Autos. Fehlten nur noch Fußgängerzone und das Lächeln tibetanischer Mönche. Fehlten sie?
    Einmal hatte er gemeint, alle diese »Neuen« seien von einem anderen Stern, seien Außerirdische. Aber nein: Sie waren von hier, und hielten Stellung im Jetzt. Der Planet gehörte ihnen allein. Von einem fremden Stern waren vielmehr er und seinesgleichen – »ihr, meine Zuhörer!«. Und die hiesigen Stellungshalter liefen und liefen, und hielten und hielten die Stellung. Würden sie aufhören zu laufen, würden nicht nur ihre Namensschilder, nebst Konterfeis, von ihnen abfallen, auf der Stelle.
    Ein paar Ureinwohnern begegnete er noch. Alle waren sie alt, und alle waren sie Altbekannte gewesen – nur daß sie an seinem Rückkehrabend in der Tat durch ihn durchschauten. Nicht bloß erkannten sie ihn nicht. Sie hatten keine Augen für ihn. (Der einzige, der ihn begrüßt hatte, war einer der Läufer gewesen, aus dem es in breitestem Deutsch oder Dänisch schallte: »Willkommen in Porodin!«, und fürsorglich hinzugefügt: »Achten Sie auf fremde Blicke!«) Die paar Einheimischen saßen zusammengedrängt an einem kurzen Tisch in einem ehemaligen Transformatorenhäuschen, das, ausgehöhlt, zu ihrer Versammlungsstube geworden war, unter ihnen der Freund, der ihn seinerzeit mit dem Traktor zum Abreisebus gebracht hatte. Und auch für den, obwohl er in seine Richtung schaute, existierte er in seiner Rückkehrstunde nicht. Allerdings sangen die paar gerade aus vollen Kehlen ihre Enklavenlieder, inbrünstig und zugleich so in sich gekehrt, daß ihnen, was um sie herum vorging, vielleicht gar nicht in den Blick geriet. Ein neues Lied war dazugekommen, bisher eine bloße Redensart, und diese und das neue Lied hießen: »To je to!« (= Das ist das! Und das ist das!, Undsoweiter – und das war der ganze Text.)
    Wer war gestorben in seiner Abwesenheit? Früher hätte man das an den der Straße zugekehrten Hausfronten erkennen können, an den dort ausgehängten schwarzen Tüchern mit den jeweiligen Namen und den Todesdaten. Jetzt: kein einziges Tuch mehr, weder ein frisch schwarzes noch eins der in der Enklavenzeit oft über mehrere Jahre, bis zum nächsten Todesfall, angehefteten, ausgebleichten, kaum mehr lesbaren. Und der Friedhof? war inzwischen mit einer hohen Mauer
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