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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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den Feldern im Hintergrund. Und das vielfältige Grünen, das unvergleichliche, das balkanische. Und das Blauen. Und die Nachtigallen bei Sonnenschein. Und einen Tag lang arbeitete er mit auf einem Feld, wie einst im Internat, beim Kartoffelpflanzen. Und die Tage begannen, sowie er ins Hören kam, oder sowie die Schatten zu spielen anhoben. Und mit der Zeit und mit dem Unterwegssein wurden euch die Schuhe zum Schuhwerk, und die Kleider zum Gewand oder »Beinkleid«, und das alte junge Europa erwachte in ihm, nicht der Erdkreis wie bei seinem Bruder, ausschließlich, seltsam, Europa erwachte in seinem dahingehenden Körper, in dessen Zwischenräumen, und weniger die Länder als diese und jene Winkel, und die Winkel verbanden sich, als andere Gelenke, ohne Grenzen, ohne eine Grenze.
    Und Begegnungen mit Menschen? Langes Sinnen. Niemand? Niemand begegnete niemand? Doch: Einmal kam er mit jemandem ins Gespräch, oder hörte dem anderen eher bloß zu. Das war der Tag des Irregehens in dem Gebiet, welches Die Balkanische Wüste genannt wurde. Von der Landstraße führten da noch und noch Wege oder Pisten hinein. Nur brachen die dir alle mittendrin irgendwo ab, vor einem letzten Acker, in der Regel mit Mais, hinter dem allerseits im Rund sich eine unübersichtlich kleinhügelige, wasserlose Sand- und Lehmlandschaft ausdehnte, wo es von Horizont zu Horizont nichts mehr zu ernten gab, höchstens vielleicht, wie in der Taiga, zu sammeln oder zu jagen. Und hier, nach einem Mäander in einem wohl schon in der Vorzeit ausgetrockneten Bachbett, das einen Weg vortäuschte, traf er euch auf einen sehr alten Mann, der vor einer Böschung mit einem Muster von Vogeleinschlüpfen im Lehm auf den Fersen hockte, wie der Wächter des Ortes da; dessen Anschein der einer Urnengräberstätte. Und ohne zurückzugrüßen, fing er gleich damit an, daß er ein Flüchtling von jenseits der Drina, aus Bosnien, sei und seit dem Ende des Krieges, seit nun fast zwei Jahrzehnten, nach seinem verschollenen Sohn suche. Fast den ganzen Balkan hatte er inzwischen durchkämmt, ohne eine Spur von seinem Kind, und viele, sagte er, waren unterwegs wie er, auf der Suche, in der Regel die Väter, während die Mütter das Haus bestellten und dort warteten, wenn sie nicht gestorben waren. Und der alte Mann erzählte, wo der Verschollene zum letzten Mal gesehen worden war; beschrieb ihn – Augenfarbe, Ohrform, Narben – und zeichnete seine Gestalt in die Luft, insbesondere die Schultern und den Kopf, all das mehr für sich selbst als für das Gegenüber, das ihm bloßer Vorwand war, sein seit Jahrzehnten ständig sich wiederholendes Selbstgespräch laut werden zu lassen. Wenigstens einen Knochen von seinem Sohn wollte er mit nachhause nehmen. Der Knochen, an dem er dabei, die beiden Arme ausstreckend, in der Luft Maß nahm, war freilich der eines Riesen, so lang und so groß wie ein ganzer Mensch. – Und sonst wirklich niemand? Nein. Ah, doch: Alle die Fährleute, die ihn über die hundertundeins Flüsse brachten. Und der andere Greis, der andere Flüchtling, der mit den Kinderaugen, im Ex-Land einst als So-oder-so-Abweichler zum Tode verurteilt, durch die Flucht ins Ausland zum Philosophen geworden, welcher, kurz vor dem Sterben, immer noch die ganze Welt umdenken wollte: »Ein neues Denksystem muß her!« Und die Frau mit den Kirschenaugen. Und der sonnverbrannte Pope auf Wanderschaft, mit nichts als einem Zahnstocher zwischen den Lippen. Und bei den doch so friedlichen Flugzeuggeräuschen, von sehr hochoben, das allgemeine Kopfeinziehen. Und das heimliche alte Liebespaar, beide weißhaarig und mit gleichermaßen geröteten Wangen. Und vieles schien einfach. Und nichts war dann einfach. Verletzte Völker waren das, von Winkel zu Winkel, wissende Völker, weise.
    Auf dem Busbahnhof der Weißen Stadt. (In den neuen Karten hieß sie wieder, wie einst in den Zeiten der Fremdherrschaft, »Weißenstadt« – wie war gerade Belgrad zu diesem Namen gekommen?) Warten auf den Bus zurück in die Enklave. Es fuhr nur noch ein einziger am Tag, und so blieb dem Heimkehrer, oder was er war, viel Zeit zum Sitzen und zum Schauen. Diesem war günstig auch die Sonne im Rücken, eine gewisse Müdigkeit und der Ort, der die Terrasse einer der rund um den großen Busplatz zahlreichen Gaststätten war. Und wie es sich traf, war sein Blickfeld ausschließlich das der ankommenden Busse. Klein war das Land geworden? Nach dem Bild der Busse hier an ihrem Zielort nicht. Nicht nur, daß
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