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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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»Delegation« wirkte er eher allein, die anderen leicht von ihm abgerückt. Und entschieden allein war er, sowie er seine Auftritte und Wortmeldungen hinter sich gebracht hatte: allein am Ende des Tisches, allein auf der obersten Stufe vor dem Tribunalseingang, allein auch am folgenden Morgen beim Frühstück im abgelegenen Hotel, eher einer Absteige in der Regel: Während seine Mitstreiter vom Vortag – wenn es welche gab – noch weiter zusammensteckten, saß er, fast unsichtbar, im düstersten und hintersten Winkel des Frühstückraums, stillvergessen für sich. Alle Flüge und Bahnfahrten buchte er sich selber, wusch sich unterwegs auch eigenhändig die Wäsche, stopfte und nähte. Dabei war dieser lonesome hobo stetig zugänglich. Wurde er angesprochen, auch unvermittelt, war er die Geistesgegenwart in Person, wie einer, der auf alles gefaßt ist und jede Möglichkeit still vorausbedacht hat. Daß die geltende Welt ihn nicht mehr ernst nahm, schien ihn nicht zu bekümmern. So war es eben, und so war es recht, so sollte es auch sein. Er würde jedenfalls ein anderes Recht verkörpert haben, würde als ein anderer Bürger seines Landes aufgetreten sein, würde eine andere Sprache gesprochen haben, vor allem in einem anderen Tonfall, nicht aus der vollen Kehle, wie die meisten seiner Mitbürger, und nicht mit Lauten, als sollte damit Silbe um Silbe ein Insekt zerdrückt werden. Und seine Stimme kam für einen, der als ein Anwalt auftrat, in der Tat, im Einklang mit seinem Körper, zwar klar vernehmlich, aber zugleich wie verträumt, auch vertraulich daher, als redete er, selbst vor mehreren, zu einem allein, ein hoher Singsang, ein zittriger. Doch das täuschte, wie auch seine Gebrechlichkeit täuschte. Er, dieser mit der Zeit und mit den Zeiten stillgewordene Amerikaner, würde nicht so bald sterben, und auch nicht jäh. Oder doch? Und nie und nimmer würde er, durfte er, verrückt werden. Oder?
    Die andere war eine ehemalige Motorradrennfahrerin aus Japan, die dann die slawischen Sprachen studiert hatte und jetzt Professorin für slawische Literaturen an einer Provinzuniversität im japanischen Süden war. Ein Fußballstar aus dem balkanischen Ex-Land, Gastspieler in Japan, war die Liebe ihres Lebens gewesen, und so war sie auch zu ihrem Studium gekommen. Nach dem Tod des Geliebten flog sie mindestens einmal im Jahr nach Europa und durchquerte den Balkan, mit Bus, Eisenbahn, auch zu Fuß. Sie war noch jung, aber Motorrad fuhr sie nicht mehr, und schon gar keine Rennen. Kaum vorstellbar, daß sie jemals eine dieser schweren breiten Maschinen gelenkt hatte, eine Kawasaki oder Honda: So winzig, beinahe zwergenhaft war die Japanerin, und so dünn. Viel zu leicht auch mußte sie sein und gewesen sein für die Stahlwucht unter ihr, obwohl das wiederum eine Täuschung sein konnte: Bei allen Versuchen, sie im Spiel vom Boden zu lüpfen – ihr Federanschein verleitete die Mitkonferenzler dazu –, war sie bei der ersten Annäherung jeweils zurückgewichen, geradezu mit einem Entsetzenslaut. Sie ließ sich nämlich von niemandem berühren, geschweige denn umarmen, auch nicht zur Begrüßung oder zum Abschied. Mehr als bloß ein Ausweichen war das dann jeweils – ein Wegzucken vorm andern. Dafür schrieb sie in der Abwesenheit Briefe voll Zutraulichkeit und Dankesbezeugungen, daß sie als Teilnehmerin der Konferenzen aufgenommen worden war, mit noch und noch Zutaten, Blütenblättern aus ihrem Garten und, vor allem, den Photos, die sie auf dem Balkan geschossen hatte, deren Gegenstand immer ein Ort, von ihr ausfindig gemacht nach der Lektüre wieder eines da im Ex-Land spielenden Buches – und kein beschriebener oder erzählter Ort, dem sie, »wie eben eine Asiatin«, nicht auf die Spur in der Realität kam, und sei er noch so versteckt und abgelegen, oder von den Autoren verschlüsselt oder bis zur Kaumerkennbarkeit verwandelt worden. Ivo Andrić, Miloš Crnjanski, Miroslaw Krleža, Ivan Cankar, würden sie noch leben, wären beim Anblick der japanischen Photos von den balkanesischen Orten, die sie beim Schreiben im Sinn gehabt hatten, aus dem Staunen nicht herausgekommen. Ob sie nicht doch eines Tages wieder auf ein Motorrad steigen und sich überhaupt als jemand ganz anderer entpuppen würde?
    So saßen sie zu dritt, als Übriggebliebene, in ihrem stillen Winkel auf dem Boden der Dolinenschüssel und tränkten zum Gedächtnis der Entschwundenen nach Balkansitte die Erde mit ein paar Tropfen aus ihren Gläsern, die
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