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Silbertod

Silbertod

Titel: Silbertod
Autoren: F E Higgins
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Kapitel 1

    In unheimlicher Gesellschaft
    E
ine Leiche an der Schwelle zur Verwesung war nicht gerade die anregendste Gesellschaft an einem Winterabend, doch Pin Carpue saß hier nicht, um sich zu unterhalten. Er saß wegen des Geldes hier. An diesem Abend jedoch war alles anders. Wenn die Tote, die er bewachte – zu Lebzeiten hatte sie Sybil geheißen –, plötzlich wieder lebendig geworden wäre und versucht hätte, ein Gespräch mit ihm anzufangen, hätte er ihr nicht antworten können. Nicht einmal, wenn er gewollt hätte.
    Denn an diesem Abend stand Pin unter der Wirkung eines einschläfernden Mittels.
    Kaum zu einer Bewegung imstande und unfähig zu sprechen, lag er benebelt auf einer Bank in der Ecke des finsteren Raums. Das Letzte, woran sich sein getrübtes Gedächtnis erinnerte, war die Tatsache, dass er seine Unterkunft verlassen hatte. Wo genau er sich im Moment befand, war ihm ein Rätsel.
    Mit äußerster Anstrengung gelang es ihm schließlich, die schweren Augenlider zu öffnen. Er starrte ins Dunkel, aber eswar schwierig, sich einen Reim aus der Umgebung zu machen, weil er alles doppelt sah. Seine Gedanken waren wie Wolken, die formlos und in sanfter Bewegung am Himmel trieben. Alles in allem, fand er, war dieses Gefühl, dieses einschläfernde Summen zwischen den Ohren, nicht einmal unangenehm.
    Irgendwo im Raum flüsterten Stimmen, und wenn Pin es zugelassen hätte, wäre er davon schnell wieder in den Schlaf gelullt worden. Doch ein Teil seines Bewusstseins war noch scharf genug, um ihm zu sagen, dass er wach bleiben wollte. Höchstwahrscheinlich hätte es die Fähigkeiten jedes anderen Jungen überstiegen, unter derartigen Umständen die Augen offen zu halten, doch Pin war gewöhnt, sich bis in die Morgenstunden hinein wach zu halten. Das gehörte zu seiner Arbeit.
    Seine Aufgabe war es, Leichen zu bewachen.
    Außerdem hatte er einen mächtigen Verbündeten in seiner Tasche, eine langhalsige, bauchige Flasche, die bis zum Rand mit Flusswasser aus dem Foedus gefüllt war. Die übel riechende Flüssigkeit zu beschaffen, war eine widerliche Arbeit gewesen, doch jetzt war er im Stillen dankbar, dass er durchgehalten hatte. Wenn er das Fläschchen nur erreichen könnte! Seine Finger, sonst sehr geschickt, waren wie aus Weichgummi und tasteten unbeholfen herum, allein um die Klappe der Manteltasche anzuheben. Endlich gelang es ihm, nach dem Fläschchen zu greifen und es herauszuziehen. Er sammelte sich noch einmal, bevor er sich an den nächsten Kraftakt wagte: das Entfernen des Korkens. Mit den Händen schaffteer es nicht, deshalb hob er mit einer ungeheuren Anstrengung die Flasche an den Mund – obwohl sich sein Arm dabei anfühlte, als müsste er sich durch tiefes Wasser kämpfen – und zog den Korken mit den Zähnen heraus. Lange und tief sog er den Gestank aus der Flasche ein, und sofort fingen seine Augen an zu brennen und in seiner Nase prickelte es, als hätte er auf ein Senfkorn gebissen.
    Teufel auch, fluchte er leise und blinzelte. Doch der Gestank der Brühe hatte die erhoffte Wirkung, und ein zweites Schnuppern brachte ihn langsam zu vollem Bewusstsein. Auf diese Weise ein wenig belebt, wenn auch noch ziemlich matt, konzentrierte sich Pin auf die Lage, in der er sich befand.
    Jetzt fiel ihm auch wieder ein, wo er war. In der Cella Moribundi , dem Warteraum für die Toten in Mr Gaufridus’ Keller. Aus irgendeinem Grund hatten ihm diese Leute dort, diese drei vor dem Tisch herumhuschenden Schatten, ein Betäubungsmittel verabreicht. Er dachte nicht daran, einen Fluchtversuch zu unternehmen, seine schlaffen Glieder hätten es nicht zugelassen. Zudem hatte er das Gefühl, dass die Leute gar nicht an ihm, sondern an der Leiche auf dem Tisch interessiert waren.
    »Er wacht auf !«
    Die Stimme des Mädchens jagte seinen Puls höher. Er sah, wie sich eine Gestalt aus dem Dunkel löste und langsam auf ihn zukam. Furcht ergriff ihn, er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Da schloss er einfach die Augen. Wenn sie von seinem Schlaf überzeugt wäre, würde sie ihn vielleicht in Ruhe lassen. Er spürte, dass sie direkt neben ihm stand. Sieroch nach Wacholder und nach dem Betäubungsmittel – Gerüche, die er so schnell nicht vergessen würde. Ihr frischer Atem wehte ihm ins Gesicht.
    »Gib ihm mehr davon«, riet eine Männerstimme.
    »Nein, ich denke, er ist noch weg«, sagte das Mädchen schließlich. Dann war alles still.
    Ganz langsam und vorsichtig wagte es Pin, die Augen
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